Aktuelle Themenwoche

112. PRO LESEN-Themenwoche: Religion im Kriminalroman

Michel Bergmanns Krimi-Reihe „Der Rabbi und der Kommissar“

Pro Lesen, der Förderverein des Bibliothekszentrums Sachsenhausen, veranstaltet allmonatlich eine Themenwoche, die sich einem besonderen Thema der Literatur zuwendet.

Im April 2024 geht es um „Religion im Kriminalroman“.

 

Bereit seit langem hat Religion Eingang in Krimis gefunden. Erinnert sei an Serienhelden wie Gilbert K. Chestertons Pater Brown (dessen Abenteuer von 1910 bis in die 1930er Jahre erschienen) und Henry Kemelmans Rabbi David Small (dessen literarische Karriere in den 1960er Jahren begann). Explizit religiöse Motive von Tätern begegnen uns beispielsweise in Dorothy L. Sayers Romanen („Keines natürlichen Todes“). Ebenso bei Patricia Highsmith („Leute, die an die Tür klopfen“) oder in Jürgen Kehrers Münsterland-Krimis „Wilsberg und die Wiedertäufer“ und „Gottesgemüse“. Vor über zwanzig Jahren wagte sich die Lutherische Verlagsgesellschaft in Kiel an das Genre heran und legte den Grundstein für eine „Kirchenkrimi-Reihe“.

 

In der Donnerstagabend-Lesung dieser Themenwoche stellt PRO LESEN den Rabbiner Henry Silberbaum, den Kriminalkommissar Berking sowie den Autor Michel Bergmann vor.

 

Henry Silberbaum ist kein Rabbi, wie er im Buche steht. Er liebt Kri­minalromane, Polohemden, seine professionelle Espressomaschine und sein Renn­rad. Aber auch seine Gemeinde, seine Schüler und die Bewohner des Jüdischen Seni­orenstifts in Frankfurt liegen ihm am Herzen. Eine solch positive fik­tive Figur konnte eigentlich nur einem Insider wie Michel Bergmann einfallen.

 

Nach seinen viel beachteten und viel gelesenen Büchern „Die Teila­cher“, „Machloikes“, „Herr Klee und Herr Feld“ (allesamt Teile einer Trilogie, die sich mit jüdischem Leben nach dem Ende des NS-Staats beschäftigen) sowie „Mameleben“ betritt Bergmann mit dem Krimi „Du sollst nicht morden“ nicht nur ein neues Genre, sondern begründet sogar eine Reihe. Denn bereits der Titel des ersten Bandes lässt vermuten, dass weitere Krimis geplant sind, deren jeweilige Titel von den zehn Geboten inspiriert sein könnten. Erschienen sind mittlerweile drei Bände.

 

Bergmann verlegte den Hauptschauplatz der Handlungen in die Mainmetropole Frankfurt. Denn dort ist er aufgewachsen, hier kennt er sich gut aus, hat insbesondere die örtliche jüdische Gemeinde kennengelernt. So erscheint es folgerichtig, dass der ers­te Band aus der Krimireihe sich im jüdischen Milieu von Frankfurt abspielt.
 

Als Hauptfigur und Ermittler fungiert, wie der Titel bereits verrät, der Rabbi Henry Silberbaum, dessen Figur von Bergmann bewusst mit zahlreichen jüdischen Attributen versehen wurde. Dies beschert dem Leser ein wahres Lesevergnügen. Die alles in Frage stellende Skep­sis gepaart mit dem jüdischen Humor sind die perfekten Eigenschaf­ten, um Silberbaum zum prädestinierten Ermittler zu machen. Natür­lich darf da eine jüdische Mutter nicht fehlen, die sich ungefragt in das Leben ihres „Bubele“ einmischt. Das erinnert an Bergmanns Ro­man „Mameleben“, in dem er das Schicksal seiner eigenen Mutter be­schreibt. Als weitere Nebenfiguren dürfen natürlich der jüdische Arzt und der jüdische Anwalt nicht fehlen, denen Silberbaum das Leben ebenfalls schwer macht.

Der Arbeitsplatz von Silberbaum ist das jüdische Gemeindezentrum in Frankfurt. Wenn er nicht den Schabbat-Gottesdienst bestreitet, sich nicht um das Wohlergehen der Bewohner des Altersheims kümmert oder Schüler unterrichtet, hält er sich mit Fahrradfahren und Schwimmen fit, was ihm im Laufe der Ermittlungen noch ent­scheidend weiterhelfen wird. Als wenn es nicht schon kompliziert genug wäre, führt er außerdem eine Fernbeziehung per Chat mit sei­ner New Yorker Freundin, die alles andere als begeistert von seinem Vorschlag ist, zu ihm ins „Täterland“ Deutschland zu ziehen oder ihn dort zu besuchen.

 

Gekonnt schafft es Bergmann, Klischees über jüdisches Leben zurecht zu rücken und mit den Rezepten für einen guten Krimi zu vermischen, ohne dabei die Handlung vor­hersehbar zu machen oder den Leser zu langweilen. Liebhaber von Krimis werden immer wieder in die Irre geführt. Es war weder der Gärtner und anders als bei Inspektor Co­lombo wird der Täter auch nicht sofort am Anfang enthüllt, sondern man muss sich bis zum Ende des Buches gedulden.

So wie im ersten Band: Die wohlhabende und herzkranke Bewohne­rin des Seniorenstifts verstirbt vollkommen unerwartet und hinter­lässt einen tief trauernden und zehn Jahre jüngeren Goj (einen Nichtjuden). Aus diesem wird das Testament bald einen reichen Wit­wer – Baruch Dayan HaEmet – machen, der natürlich daran interes­siert ist, dass seine religiöse Frau schnell nach jüdischem Ritus bei­gesetzt wird. Da kommt so ein nerviger Rabbi, der nicht an eine na­türliche Todesursache glauben will und von Mord ausgeht, sehr un­gelegen. Die Verstorbene hatte ihm kurz vor ihrem Ableben erzählt, dass sie glaube, ihr Ehemann betrüge sie mit einer „Schickse“, die zufällig auch noch ihre Vermögensverwalterin und von Anfang an sowieso nur an ihrem Vermögen interessiert sei. Aus diesem Grund habe sie beschlossen, ihn zu verlassen und zu ihrer Tochter nach Is­rael zu ziehen. Dafür müsse sie nur noch das Testament ändern las­sen.

 

Für alle anderen Beteiligten scheint Herzversagen als Todesursache schnell festzustehen, und man könnte den Fall schnell zu den Akten legen, wenn da nicht der wachsame Rabbiner wäre. Dessen geschul­ten Augen fällt der zerbrochene Teller auf, auf dem ein Apfel gele­gen hat und den die Frau bei ihrer Herzattacke umgestoßen haben könnte. Einzig die aus Israel angereiste Tochter unterstützt ohne Be­denken die Ermittlungen des Rabbis, wozu auch eine Autopsie ge­hört, die im Judentum alles andere als erwünscht ist.

 

Natürlich weiß der geschulte Krimileser, dass zu einem guten Er­mittler auch immer ein Partner gehört, der charakterlich das genaue Gegenteil ist, ihn aber gut ergänzt. So einen findet Silberbaum in Kommissar Robert Berking. Ihr erstes Kennenlernen ist mehr als nur unkonventionell, denn Berking nimmt ihn nachts auf dem jüdischen Friedhof fest. Dorthin hatte es Silberbaum mit seiner reizenden Arbeitskollegin verschlagen, die die Asche ihres nichtjüdischen Vaters auf dem Grab ihrer jüdischen Mutter verstreuen möchte.

Mit ein wenig Zeit und viel Überzeugungsarbeit findet das Team zu­einander. Berking ist mürrisch und eher zurückhaltend, und somit in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil von Silberbaum. Trotzdem brillieren die beide nach Startschwierigkeiten. Doch nicht nur der Kommissar behindert zu Beginn die Ermittlungen, sondern auch der Vorsitzende der Gemeinde, der Silberbaum mit der Kündigung droht, sollte dieser nicht unverzüglich von seinen Ermittlungen Ab­stand nehmen. Denn es wäre nicht das erste Mal, dass der Rabbi seiner Gemein­de Kopfzerbrechen bereitet.
Bevor sich das neue Ermittlerduo versieht, ist es bereits mitten da­bei, einem mörderischen Komplott auf die Schliche zu kommen.


Auch in den mittlerweile vorliegenden Bänden 2 und 3, „Du sollst nicht begehren“ und „Fremde Götter“, jongliert Bergmann geschickt mit jüdischen Traditionen, der besonderen Sichtweise jüdischer Deutscher und den Besonderheiten einer stets größer werdenden jü­dischen Großstadtgemeinde, die Juden aus unterschiedlichen Her­kunftsländern vereint. Vielen von ihnen ist noch das vor allem in Osteuropa gesprochene Jiddisch geläufig. Anlass für Bergmann, sich regelmäßig typischer Worte und Redewendungen dieser alten Sprache zu bedienen und sie mit Hilfe eines Glossars am Buchende auch dem interessierten Nichtjuden etwas zugänglich zu machen.

 

 

 

Michel Bergmann wurde 1945 als Kind internierter jüdischer Flüchtlinge in Riehen bei Basel geboren. Seine frühe Kindheit verbrachte er in Paris, seine Jugend in Frankfurt a.M. Nach dem Studium arbeitete er als Journalist, unter anderem bei der ›Frankfurter Rundschau‹, später als Regisseur und Produzent, seit 1990 als Drehbuchautor (u.a. ›Otto – Der Katastrofenfilm‹, ›Es war einmal in Deutschland …‹). 2010 erschien sein erster Roman ›Die Teilacher‹, dem bislang acht weitere folgten. Michel Bergmann lebt mit Frau und Hund in und bei Berlin. Er ist der Vater des Bestsellerautors Emanuel Bergmann (Der Trick/Diogenes).