Aktuelle Themenwoche

103. PRO LESEN-Themenwoche 12. – 17. Juni 2023

Nachrichten von der ausgelagerten Seele

Der Georg-Büchner-Preisträger Clemens J. Setz

 

 

 

Clemens Johann Setz (* 15. November 1982 in Graz, Steiermark), bekannt als Clemens J. Setz, ist ein österreichischer Schriftsteller und Übersetzer. Er lebt und arbeitet in Wien. Seit etwa 15 Jahren veröffentlicht er Gedichte, Erzählungen, Essays und Theaterstücke.

Vor allem seine Romane wurden bekannt und einige von ihnen mit Preisen bedacht. 2015 erhielt er für sein umfangreiches Erzählwerk „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“ den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis. 2019 den Berliner Literaturpreis, 2020 den Jakob-Wassermann-Literaturpreis und den Kleist-Preis, 2021 wurde er mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet.

Im Jahr 2023 ist er Dozent der „Frankfurter Poetik-Vorlesungen“ der Goethe-Universität. Sein Thema: Mysterien.

 

Im Februar 2023 erschien sein Roman „Monde vor der Landung“. Darin rekonstruiert er das Leben und Wirken des aus der Nähe von Worms stammenden Peter Bender, einem Vertreter der sogenannten Hohlwelt-Theorie. Die Menschheit, so diese Theorie, lebe nicht auf, sondern in einer Kugel, außerhalb derselben existiere nichts. Benders Gefolgschaft bleibt überschaubar, dennoch wird er wegen der Verbreitung aufwieglerischer und gotteslästerlicher Flugschriften zu einer mehrmonatigen Kerkerhaft verurteilt. Als sich nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten herumspricht, dass seine Frau Jüdin ist, wenden sich selbst seine engsten Anhänger von ihm ab. Die Benders verarmen, die Repressionen gegen seine Frau werden bald unerträglich, bis die Familie 1942 verhaftet und deportiert wird. Nur der Sohn überlebt das Konzentrationslager.

 

 

Wer Näheres über den Autor erfahren möchte, dem sei die Lektüre des Buchs „BOT . Gespräche ohne Autor“ empfohlen. Darin befragt ihn die Wiener Publizistik Angelika Klammer nach Details seines privaten und künstlerischen Lebens. Setz antwortet nicht direkt, sondern ein „Clemens-Setz-Bot“, eine Art künstliche Intelligenz, der Chat GPT vergleichbar, nur unendlich intelligenter. Dieses Millionen von Zeichen umfassende Tagebuch erweist sich als aufschlussreich sowohl für Setz-Kenner als auch für alle, die erstmals mit ihm in Kontakt treten.

 

Hier zwei Ausschnitte:

 

In Indigo treten Sie als Clemens Setz auf, in Die Stunde zwischen Frau und Gitarre als Hase. Wie ist das Leben als literarische Figur?

 

Höchst beunruhigendes Gespräch mit einer Frau, die ihre Tochter als Indigokind bezeichnet und mir erklärt, es sei mit ihr »wie in deinem Roman«. Zuerst denke ich, dass sie damit das bekannte esoterische Konzept der Indigokinder meint, aber dann frage ich nach (auf typisch eitle Autorenart neugierig, ob sie den Roman gelesen hat oder nicht), wie sie das meine, »wie in meinem Roman«. Na, ihre Tochter mache die anderen Kinder im Kindergarten krank, wenn sie mit ihnen zusammen sei. Zuerst habe sie gedacht, es sei vielleicht das Shampoo, das sie zu Hause verwenden - auch die Kindergartentante, der die krankmachende Wirkung des Mädchens zuerst aufgefallen sei, habe das vermutet -, aber sie hätten das Shampoo gewechselt, und die Wirkung sei dieselbe geblieben. Und nun habe sie erfahren, dass es in Graz - so ein Zufall - jemanden gebe, der ein Buch über diese Art von Kindern geschrieben habe, wie sei denn heute mein Verhältnis zu den darin porträtierten Müttern? Nachdem ich verstanden hatte, dass sie dies alles ernst meinte und es kein verspäteter Aprilscherz war, erklärte ich ihr einigermaßen entsetzt, dass mein Roman Fiktion sei, reine Fantasie. Darauf ging sie nicht wirklich ein, und ich muss zugeben, dass ich anfangs auch eine gewisse Scheu hatte, sie aus ihrer Wirklichkeitsblase zu stoßen, sie schien darin so zu Hause. Sie sagte, natürlich mache ein Autor immer was Eigenes aus einer Geschichte, künstlerische Freiheit und so. Mit zunehmendem Unbehagen versuchte ich sie zu überzeugen, dass ihre Sicht auf ihre Tochter Unsinn sei, aber das war vollkommen unmöglich. Es sei immer dasselbe, die anderen Kinder seien von ihr abgestoßen, bekämen Haut­ausschläge im Halsbereich (sie sprach, mit entsprechender gestischer Untermalung, von »Kragenausschlägen«), »Fingerzittern« und Kopfschmerzen. Ich äußerte die Theorie, dass ihre Tochter möglicherweise einfach gesund und abwehrstark sei, während die anderen das Kindergarten-Fertigessen nicht vertragen oder sonst irgendwie allergisch auf etwas dort reagieren. Davon wollte sie nichts hören. Und sie wiederholte ihre interessierten Fragen nach den Leuten, die ich sicher für die Recherchen zu meinem Roman getroffen hätte, es gebe kaum Möglichkeiten, andere Eltern mit ähnlichen Problemen zu finden, aber mein Buch könne das vielleicht ein bisschen ändern. Schließlich wusste ich mir keinen anderen Rat, als ihr zu empfehlen, das Mädchen vielleicht mal für ein Jahr oder so zu Verwandten zu schicken, sie hatte vorher eine Großmutter im Elsass erwähnt, aber auch das wurde zurückgewiesen. Und dann später vielleicht ein Internat, sagte ich (armes Mädchen, bloß weg von dieser Familie!). Ich sei selbst in eines gegangen, log ich und spürte den besonderen Ekel, der immer dann auftritt, wenn jemand einen zwingt, mit in die Kammer seines Wahnsinns zu gehen. Das alte Canetti-Zitat kam mir in den Sinn, dass ein guter Autor seinen Figuren erst dann in der Wirklichkeit begegnet, nachdem er sie erfunden hat. So wie Canetti das formuliert, klingt es direkt wie etwas Angenehmes.

(April 2014)

 

Im Gegensatz zu vielen Ihrer Kollegen gehen Sie nicht davon aus, dass Sie immer publizieren werden. Ist das eine eher traurige oder befreiende Vorstellung?

 

In Köln trat ich mit Verena Roßbacher auf, die mich als »Paten« gewählt hatte, obwohl sie sowohl älter als auch erfolgreicher ist als ich; also eine lustige Umstülpung des Patenschafts-Lesung-Formats, das jedes Jahr in Köln veranstaltet wird; und tatsächlich sehr freundlich von ihr. - Verena sagte mir, sie glaube, mein Problem (ihr Wort dafür war »Krux«) sei eine vollkommene Herzlosigkeit, die sich in meinen Büchern zeige. Viel Bravourstückligeschäft, wenig Menschliches. Das brachte mich auf den Gedanken, dass es möglicherweise lauter solche bizarren und eigentlich stark behindernden Mängel sein müssten, die Autoren auszeichnen. Sie hat gewiss recht, obwohl ich es nicht herzlos nennen würde, vielleicht eher -ich sagte das auch beim Auftritt - seelenlos. Eben das, was bei anderen am Ende unsterblich wird. In Köln sah ich dann eine Reihe übel zugestutzter Platanen, die an aufgespannte Regenschirmskelette erinnerten. Beim Verlassen der Stadt gab es einen Nahverkehr-Generalstreik, überall gerieten Menschen in Wut, Taxifahrer verscheuchten einander plärrend von den Standplätzen vorm Bahnhof. Es war schön anzusehen, wie ein Konzert. Daneben der monströse Dom, der seit Jahrhunderten mit alldem hier nichts mehr zu tun hat. Er trug sehr hoch oben ein Gerüst, sein Headset. - Dann auf dem Weg nach Hause nickte ich im Flugzeug von Frankfurt nach Graz kurz ein. Im Traum befand ich mich auf einem Rollfeld vor einer großen Maschine, auf der »KuKluxAir« stand. Ich dachte: Seltsam, wie sich immer alles verwandelt. Dann war ich im Flugzeug, und es gab Eis für alle. Was mir der Traum vermutlich mitteilen wollte: Wenn man einen Ku-Klux-Klan-Mann umdreht und am Spitzhut in der Hand hält, kann man ihn wie eine Eistüte abnagen und langsam aufessen. - Aber im Ernst, es ist unerträglich und lächerlich, ich bin jetzt 31 und habe noch immer keinen Beruf. Ich bin als Entertainer im Land unterwegs. An sich keine Schande, wie Schlagersänger, Kabarettist oder Motivationstrainer, alles ehrenwerte Tätig­keiten, aber halt nie von mir als Beruf beabsichtigt. Aber nun bin ich das. Leute zum Lachen bringen. Es wird mir peinlich. Heftiger Selbstekel auch beim Gedanken an den zu 85 % fertigen Roman Die Stunde zwischen Frau und Gitarre. Schade, dass mein Roman Über die Natur nicht erscheinen kann, oder darf, was weiß ich. Weil dann alle entsetzt, Karriere aus, lol. Noch größerer Ekel später beim Gedanken an ein Autorenleben mit, let's say, fünfundvierzig oder fünfzig. Immer noch um Stipendien ansuchen, auf Preise hoffen. Auftreten und witzig sein. Wir wollen es lieber gut sein lassen, dann. (16.-18. März 2014)

 

 

Weitere Romane in Auswahl:

 

Die Bienen und das Unsichtbare (2022)

Bot (2018)

Die Stunde zwischen Frau und Gitarre (2017)

Indigo (2013)

Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes (2012)

Die Frequenzen (2011)