Das kritische Tagebuch

Wenn das Virus Gesicht zeigt

Die Tumulte in Kassel offenbarten, wer dort und anderswo die Infektionen hochtreibt

Ein Querdenker aus Kassel – irre und gefährlich. © hr-Fernsehen

Der Mann, der irren Blickes in die TV-Kamera stierte und sich Verschwörungsfantasien aus dem Leib schrie, war anscheinend einer jener typischen Corona-Leugner, die in Kassel randalierten. Ein anderer, dessen politisches Statement vom hr-Fernsehen festgehalten wurde, belegt die These, dass Hass hässlich macht. Er lebe seit einem Jahr in einer Corona-Diktatur, beschwerte sich der Mann, dessen Physiognomie an einen Henkersknecht erinnerte. Erworbene Grobschlächtigkeit, welche die Brutalität erahnen lässt, zu der er fähig sein könnte. Diese sogenannten Querdenker geben sich als kritische Staatsbürger aus und versuchen, ihre tatsächlichen Charaktereigenschaften zu verbergen. Wollen darüber hinwegtäuschen, dass sie Quertreiber, Beckmesser und Stänkerer sind. Dass sie das Leben der anderen gering schätzen und gefährden. Kriminelle, unfähig zur Solidarität, unfähig zum Diskurs, unfähig zur Demokratie.
 

Und vor solchen Kreaturen haben Politiker Angst? Wurde wegen des Wutgeheuls aus diesen Kreisen im Sommer letzten Jahres der anfangs erfolgreiche Lockdown gegen null gefahren? Wurde deswegen dem Hedonismus von Banausen stattgegeben, die auf Mallorca das Elend ihrer Durchschnittsexistenz verdrängen wollten und dadurch dazu beitrugen, dass das Virus wieder mobil wurde? Erleben wir darum einen ständigen Wechsel von Einschränkungen und Lockerungen, von denen de facto Multis wie Amazon oder marktbeherrschende Baumarktketten ausgenommen sind? Versucht aus diesen Gründen die Politikerkaste die Bedrohung mittels Verweisen auf regionale Besonderheiten zu relativieren? Liefern die Unbelehrbaren den Anlass, sogar die Maßstäbe für Gefahren ändern wollen, damit schöngeredet werden kann, was nicht schönzureden ist? Warum müssen Politiker Verständnis äußern für solche, die sich um ihren Verstand gebracht haben? Pluralismus in Ehren, aber ein Pluralismus, der den Feinden des Lebens Zugeständnisse macht, ist eine Straftat.
 

Eines steht fest: Die Würde des Menschen, die an die Existenz von lebenden und selbstbestimmten Bürgern geknüpft ist, wird nicht mehr im notwendigen Umfang geschützt. Immerhin sind in Deutschland bis jetzt über 74.000 Menschen an der Seuche gestorben. Wegen des Mobs, den die Unvernunft hervorgebracht hat, knüppeln Polizisten bei Krawallen der Corona-Leugner auf achtsame und besonnene Gegendemonstranten ein, verkennen Polizeiführer die tatsächliche Lage und irrt der hessische Innenminister von einer Fehleinschätzung zur nächsten.
 

Es ist höchste Zeit, dass die Politik Zeichen setzt, dass sie politisch wird. Die Bevölkerung bedarf klarer Signale, schließlich geht es letztlich um alles, um alles, was das Leben positiv ausmacht. Ministerpräsidenten, die zunächst einen Schritt vorangehen und sich kurz darauf zwei Schritte zurückbewegen, wirken demoralisierend. Und erweisen sich als Katalysator für die Corona-Pandemie, anstatt ihr alles, was verfügbar ist, entgegenzusetzen.
 

Das Virus benötigt zu seiner Entfaltung einen Wirt, nämlich den Menschen. Folglich muss ihm dieser Wirt entzogen werden. Durch Kontaktbeschränkungen, Abstand halten, Maske tragen, Hygiene und wiederholtes Lüften geschlossener Räume. Unter Räumen sind auch Schulen und Kindertagesstätten zu verstehen. Zusätzlich durch ein engmaschiges Netz von Testungen. Und – was das Entscheidende sein wird – durch ein schnelles Impfen; 60 Millionen Menschen in den kommenden sechs Wochen sollten Pflicht sein. Dann hätten wir Ruhe. Ruhe vor der Infektion und vor der halbseidenen Verweigerungsfront.
 

Vorüber wäre die Bedrohung dann leider noch nicht. Denn in Brasilien droht das Virus in einer Weise zu mutieren, gegen welche die derzeit verfügbaren Vakzine nicht helfen könnten. Falls nicht unverzüglich die Bevölkerung durchgeimpft würde, entwickelte sich dort eine Katastrophe mit Folgen für die gesamte Welt. Ähnlich wie in Deutschland und seinen Nachbarländern besteht die Gefahr aus zwei Teilen: Einerseits aus dem Virus und andererseits aus Ignoranten, die seiner Bekämpfung bewusst im Wege stehen. In Brasilien riskiert der Rechtsextremist Bolsonaro die Verseuchung seines Volkes. Der Kampf gegen Corona ist notwendigerweise auch einer gegen Dummheit und politische Machthaber, die auf Einfalt setzen.

 

Das „Kritische Tagebuch“ wird geführt von Klaus Philipp Mertens