Das kritische Tagebuch

Die Wahl fällt schwer II

Olaf Scholz - Aufbruch oder klammheimliche Restauration der Agenda?

Olaf Scholz posiert in einer E-Mail an SPD-Mitglieder © SPD

„Wessen Morgen ist der Morgen? Wessen Welt ist die Welt?“ So heißt es in Bertolt Brechts „Solidaritätslied“, das er für den Film „Kuhle Wampe“ schrieb, der 1932 uraufgeführt wurde. Diese Doppelfrage stellt sich erneut angesichts einer durch Profitinteressen verursachten Klimaveränderung, die längst katastrophale Ausmaße angenommen hat. Von der Zerstörung uralter Kulturlandschaften mit der Folge der Vernichtung von Existenzen von Millionen Menschen, der Auslösung von weltumspannenden Flucht- und Wanderungsbewegungen bis zur Wiedergeburt faschistischer Ideologien und dem Anzetteln und Inkaufnehmen von Kriegen. Sie stellt sich ebenso vor dem Hintergrund international operierender Finanzpiraten, die mit Cum-Ex-Geschäften, Geldwäsche, der Parallelwährung Bitcoin und der offensichtlichen Unterwanderung der Europäischen Zentralbank die Umkehrung aller sozialen Errungenschaften der letzten 250 Jahre in einem Ausmaß betreiben, das selbst George Orwell überraschen würde. Dessen düstere Prognosen, festgehalten im Roman „1984“, haben sich vielfach erfüllt, auch wenn das von den Nutznießern geschickt kaschiert wird.
 

Die Überwachung des Einzelnen durch staatliche Organe und durch Wirtschaftsunternehmen greift, seit sich Internet- und Mobilfunktechnologien durchgesetzt haben und kaum Regulierungen befürchten müssen. Und sie ist erfolgreich, obwohl sie an die primitivsten Regungen im Menschen appelliert. Nämlich an Eitelkeit, Klatschbedürfnis, sexuelle Ausbeutung, Übervorteilung anderer sowie rassistische und politische Diskriminierung. In Facebook, Instagram, WhatsApp und YouTube tummeln sich die Dummen und Verblödeten, das ordinäre Lumpenproletariat und die Querulanten aller Richtungen in enger Nachbarschaft. Es scheint angebliche Demokraten nicht zu stören, dass nebenan Menschenschinder eine neue „Endlösung“ propagieren oder in Gender-Seminaren die endgültige Benachteiligung von Frauen als Geschlechtergerechtigkeit anpreisen.
 

Digitalisierung für was und für wen? – das ist hier die Frage, die sich jenseits der berechtigten Forderung nach optimalen digitalen Arbeitsprozessen und einer menschenfreundlichen digitalen Kommunikation stellt.
 

Die Klimakrise ruft in Erinnerung, dass wesentliche Fragen nach dem Zusammenleben und der gemeinsamen Verantwortung für die Menschen und ihre Welt nicht geklärt sind, und sie stellt diese zur Entscheidung: Wem gehören Grund und Boden, Wasser, Luft und Atmosphäre? Diese Elemente des Lebens sind nicht vermehrbar, sie können nur in gemeinschaftlicher Verantwortung gehegt, geteilt und weitergegeben werden. Wer also enteignet die Usurpatoren, wer verbrennt die Grundbücher, wer definiert Eigentum neu?
 

Von ähnlicher Brisanz ist alles, was mit Bildung zu tun hat. Und wo die Grenzen des Konsums liegen.
 

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands hat in ihrer langen Geschichte diese Probleme früh erkannt und mit unterschiedlicher Gewichtung auch benannt. Das Wechselverhältnis von Arbeit, Wohlstand, sozialer Absicherung und dem Eigentum an den Produktionsmitteln zieht sich durch sämtliche Parteiprogramme. Denn auch sie steht auf den Schultern von Karl Marx, selbst wenn sie diese Tatsache selten reflektiert, ja, sie sogar bewusst verschweigt. Ähnlich stumm verhält sich die CDU, die ihr „Ahlener Programm“ von 1947, mit dem sie sowohl den Kapitalismus als auch den Marxismus überwinden wollte. Was den Widerstand Konrad Adenauers heraufbeschwor.
 

Die alten Lebens- und Überlebensfragen, die nach wie vor ungelöst sind und immer dringlicher werden, stehen indirekt auch bei der Bundestagswahl zur Abstimmung. Hat die SPD die Signale verstanden? Was will sie verändern?
 

Eine erste Antwort habe ich erhalten. Vor mir liegt eine E-Mail des SPD-Parteivorstands an alle Mitglieder (eines davon hat mich informiert). Sofort fällt der Slogan ins Auge: „Deutschlands Zukunft. Scholz packt das an“. Der Vizekanzler und Kanzlerkandidat vor einer Deutschlandkarte. Es mutet an wie die ESSO-Werbung der 1960er Jahre: „Pack‘ den Tiger in den Tank“. Doch dieser Tiger lobt lediglich 50 Gutscheine für Getränke und Popcorn aus. Damit wird für das Anschauen des ersten „TV-Triells“ in RTL und ntv geworben.
 

„Lade jetzt Deine Freund*innen, Bekannten oder Familienangehörigen ein und schaut gemeinsam.“ Und weiter: „Zeig auch am Sonntagabend während des Triells, dass Du Olaf anfeuerst. Lass uns dazu gemeinsam Bilder aus unseren Wohnzimmern in die sozialen Netzwerke hochladen. Mach ein Selfie von Dir beim Triell-Gucken und markiere dabei unsere SPD Accounts, damit wir zeigen können, dass überall im Land Olaf angefeuert wird.“
 

Nach gesellschaftlichem Aufbruch klingt das nicht. Eher nach dem dümmlichen und unpolitischen Getue von Bildungsfernen. Allein die Botschaft an die Frauen ist eindeutig. Durch das Gendern soll jeder bewusst werden, dass sie „Bein von Adams Bein und Fleisch von Adams Fleisch ist und man sie Männin nennen wird, weil sie vom Manne genommen ist“ (Genesis 2, Verse 21 – 23).
 

Vor einem Jahr wurde Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD nominiert. Und er bestätigte damals: „Ich will dringend ins Kanzleramt, und zwar als Kanzler." Angesichts von Umfragewerten zwischen 14 bis 16 Prozent erschien das als ein zur Schau getragener Zweckoptimismus. Doch Scholz entgegnete seinen Spöttern: „Nur wer selber mutig ist, kann andere von sich überzeugen. Davon bin ich fest überzeugt. Und wir brauchen eine mutige SPD."
Beim Wahlprogramm zeigte sich die Partei weniger mutig. Zwar nimmt sie die Herausforderungen, von denen ich eingangs wichtige aufgezählt habe, zur Kenntnis. Aber ich hege Zweifel, dass sie diese auch wirklich anpacken wird.
 

Bemerkenswerter erscheint mir, dass die üblichen internen Grabenkämpfe, die für gewöhnlich öffentlich ausgetragen werden, verstummt sind. Selbst Ex-Juso-Chef Kevin Kühnert hat Kreide gefressen. Und die Umfragewerte für die SPD steigen. Ob es an dem unaufgeregt daherkommenden Spitzenkandidaten liegt oder an den Schwächen seiner Konkurrenten Laschet und Baerbock, lässt sich noch schwer beurteilen. Im letzten Deutschland-Trend lag die CDU nur noch mit zwei Prozentpunkten vor der SPD (23:21); bei der jüngsten FORSA-Umfrage führt gar die SPD mit einem Punkt (24:23). Gäbe es eine Direktwahl des Kanzlers, könnte Scholz auf 41 Prozent hoffen, Laschet nur auf 16, Annalena Baerbock läge abgeschlagen bei 12 Prozent.
 

Doch selbst für den Fall eines Wahlsiegs der SPD wird es auf eine Koalition hinauslaufen. Ob SPD und CDU noch einmal miteinander können oder wollen, steht dahin. SPD plus Grüne könnte zu knapp sein für eine Regierungsmehrheit. Würden letztere die FDP ins Boot holen, machten sie den Teufel zum Beelzebub. Und SPD plus CDU plus FDP? Das wäre noch schlimmer. Schlimmer jedenfalls, wenn man die Sache an Bert Brechts Appell festmacht:
 

„Vorwärts und nicht vergessen
und die Frage konkret gestellt
beim Hungern und beim Essen:
Wessen Morgen ist der Morgen?
Wessen Welt ist die Welt?“


"Das kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens

© Brecht-Gedicht: Suhrkamp Verlag