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„In respektvoller Verneigung“

Über den Schriftsteller Hermann Kant

(c) der Cover-Abbildungen Aufbau Verlag

Charakteristisch für Hermann Kants Erzählstil waren seine Sprachkraft und der Mut zur unkonventionellen Darstellung. Diese Talente gestatteten ihm vielschichtige und hintergründige Textkompositionen. Zwar war der DDR-Schriftsteller unverkennbar ein Vertreter des sozialistischen Realismus. Dennoch vermied er das rein Plakative. Für seine zahlreichen Leser war er sowohl Chronist des real existierenden Sozialismus in der DDR als auch ein Künstler, der politischen Visionen anhing. Am 14. Juni 2021 jährt sich zum 95. Mal sein Geburtstag. Kant verstarb am 14. August 2016.

Schriftstellerisches Können einerseits und Regimetreue andererseits mündeten zwangsläufig in einen Widerspruch. Das führte dazu, dass ein Teil von Kants Leserschaft, vor allem in der DDR, ihn anerkannte und verehrte, und ein anderer ihn völlig ablehnte. Gleichwohl gelang es ihm, Figuren zu schaffen, die typisch waren für den Alltag, so wie er von vielen in der DDR wahrgenommen wurde. Doch bei aller unleugbaren Begabung war er kein Meister der Ironie oder der Satire. Allerdings war er nach Einschätzung des Literaturlexikons von Walter Killy „frech und schnurrig“. Eine literarische Kunstform, die für die DDR nicht sehr typisch war. Manche Versuche, sich der Wirklichkeit kritisch zu nähern, erwiesen sich letztlich als unaufrichtige Schönfärberei. Schriftstellerkollegen wie Günter de Bruyn, Franz Fühmann oder Stefan Heym, die seine Grundüberzeugungen teilten, warfen ihm einen eklatanten Mangel an Dialektik und ein Übermaß an Dogmatik vor.

Kant war Mitglied der SED, gehörte deren Zentralkomitees an und wurde Abgeordneter der Volkskammer. Nach der Wende verließ er die Partei nicht, sondern setzte seine Mitgliedschaft in der PDS beziehungsweise deren Nachfolgepartei DIE LINKE fort.

Seine Kindheit verbrachte das zweitälteste Kind der sechsköpfigen Familie von 1926 bis 1940 in seiner Geburtsstadt Hamburg, wo er in ärmlichsten Verhältnissen lebte. Der Vater, ein gelernter Gärtner, wurde 1933 aus dem städtischen Dienst entlassen, weil er als Freund, nicht aus politischen Gründen, einem Kommunisten geholfen hatte. Seitdem schlug er sich als Straßenfeger durch, während die Mutter als Dienstmädchen und Fabrikarbeiterin hinzuverdiente.

Ein Bild dieser Lebensumstände zeichnete Kant in seinem schriftstellerischen Debüt. In der Titelgeschichte des Erzählbandes „Ein bißchen Südsee“, 1962 erschienen, schildert er das Leben der Ärmsten. Am Rande des noblen Stadtteils Hamburg-Blankenese leben diese in windschiefen Bretterbuden und fristen ihr Dasein. Die Südsee dieser Leute, ein kleines Aquarium mit ein paar exotischen Zierfischen, angeschafft von einem Bewohner der Kolonie, ist seither das Ausflugsziel aller und Trostspender für nicht erfüllbare Reiseträume.

Wegen der sich abzeichnenden alliierten Bombenangriffe auf Hamburg zog die Familie 1940 zu Hermann Kants Großvater nach Parchim in Mecklenburg. Dort besuchte er die Volksschule und begann 1941 eine Elektrikerlehre, die er 1944 mit der Gesellenprüfung abschloss. Unmittelbar danach wurde er zur Wehrmacht eingezogen und nach Polen abkommandiert. Sein Kriegsdienst währte erst sieben Wochen, als er von polnischen Zivilisten gefangen genommen und in der Nähe von Lublin einer sowjetischen Truppe übergeben wurde. Es folgte eine vierjährige Kriegsgefangenschaft. Wegen seiner Fachkenntnisse als Elektriker wurde er nach Warschau verbracht, zunächst in das Gefängnis Mokotow und danach in jenes Kriegsgefangenenlager, das sich auf dem Gelände des Warschauer Ghettos befand.

In diesem Lager schrieb er seinen ersten politischen Artikel, dem aktuelle Erfahrungen zugrunde lagen: Während seine Mitgefangenen es für Unrecht hielten, inhaftiert zu sein und nach einer „Rückfahrkarte“ in die Heimat verlangten, erklärte er ihnen, dass sie erst einmal für die »Hinfahrt« bezahlen müssten. Keiner der Lagerinsassen fühlte sich für den Vernichtungsfeldzug in Polen verantwortlich. Kant machte ihnen klar, dass niemand von ihnen an seiner Kriegsgefangenschaft schuldlos war.

Die Stätte verschaffte ihm Gelegenheit, ehemals verfolgte und inhaftierte Kommunisten kennenzulernen. Gemeinsam mit ihnen gründete er einen Antifa-Block und eine Antifa-Zentralschule. Vier Tage vor Weihnachten 1948 wurde Hermann Kant aus der Gefangenschaft entlassen. In Parchim eingetroffen, meldete er sich alsbald bei der Kreisleitung der SED und stellte einen Aufnahmeantrag. Wegen seiner politischen Arbeit im Gefangenenlager wurde ihm der Besuch der Kreisparteischule ermöglicht. Parallel zu den Abendkursen ging er seiner Arbeit bei der Stadtverwaltung nach, wo er für Jugendfragen zuständig war.

1951 bestand er an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) in Greifswald das Abitur mit Auszeichnung. Nach einjähriger Dozententätigkeit an der ABF begann er 1952 ein Germanistikstudium an der Humboldt-Universität in Berlin, das er 1956 mit Diplom abschloss. Es folgten Tätigkeiten als wissenschaftlicher Assistent am Germanistischen Institut und als Chefredakteur der Studentenzeitschrift „Tua res“ – was sich mit „Deine Sache“ übersetzen lässt. Zeitgleich war er Parteisekretär der Germanistischen Grundorganisation und Mitglied der Universitäts-Parteileitung. Ab 1959 arbeitete er als freiberuflicher Mitarbeiter des Deutschen Schriftstellerverbandes der DDR.

Obwohl als Autor bereits anerkannt, erreichte er mit seinem ersten Roman „Die Aula“, der 1965 erschien, besondere Aufmerksamkeit und erzielte eine Bekanntheit, die auch in der Bundesrepublik wahrgenommen wurde. In der „Aula“ beschreibt er Aufbau, Leben und Lernen an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF), aber auch deren Schließung nach zehn Jahren. Aus diesem Anlass soll die Hauptfigur Robert Iswall eine Festrede halten. Iswall ist unverkennbar das Alter Ego Kants. Exemplarisch wird die Entwicklung dieser ABF am Werdegang von acht Absolventen geschildert. Einer der Talentiertesten, „Quasi“ Riek, von dem alle glauben, dass er der geborene Organisator und Kämpfer für den Aufbau des Sozialismus in der DDR wäre, geht in den Westen nach Hamburg, wo er als Kneipenwirt seinen Lebensunterhalt verdient.

Kant waren die Unzulänglichkeiten und Schwächen des Sozialismus á la DDR durchaus bewusst. Seine Versuche, diese literarisch zu bewältigen, scheiterten jedoch zumeist auf der Reflexionsebene. Denn zu einer fundamentalen Kritik war er nicht bereit, die Satire lag ihm nicht, also musste er sich zu einem „Trotz alledem“ durchringen.

Auf die „Aula“ folgten 1972 „Das Impressum“ und 1977 „Der Aufenthalt“.

In „Das Impressum“ fordert Hermann Kant den Leser heraus, sich politisch zu positionieren und für die Beschlüsse der SED einzutreten. Kaleidoskopisch zeigt er anhand der Hauptfigur David Groth, wie vielschichtig und widersprüchlich sich die sozialistischen gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten. In seiner vierzigjährigen Berufspraxis hat Groth es vom Laufjungen zum Chefredakteur einer Berliner Illustrierten geschafft. Nun soll er, auf Verlangen der SED-Parteileitung, Minister werden. Die mögliche Berufung, die ihn völlig unerwartet trifft und seine bisherigen gesellschaftlichen und persönlichen Ambitionen teilweise infrage stellt, führt zu Reflexionen bis in die Kindheit hinein. Hin und her gerissen zwischen dem Wunsch sich selbst zu verwirklichen oder die familiären und freundschaftlichen Beziehungen aufrecht zu erhalten, zweifelt er an sich selbst. Kann er dem Vertrauen genügen; den Ansprüchen gerecht werden? Zunächst verweigert sich Groth mit aller Kraft; findet immer neue Ausflüchte. Er ist gezwungen, sich mit seiner Frau, den Freunden, seinen Kollegen und den Parteimitgliedern auseinanderzusetzen. Indem er ihr Vorbild anerkennt und es sich zu eigen macht, entwickelt sich seine Persönlichkeit weiter. Letztlich revidiert er seinen anfänglichen Widerstand und erklärt sich bereit, den Parteiauftrag anzunehmen. Er stellt so die gesellschaftlichen und politischen Erfordernisse über seine persönlichen Wünsche und Träume.
Dieser Ausgang des Romans entspricht offenbar dem seinerzeitigen Wunschdenken der Funktionäre in der SED-Parteispitze. Kant hat diese Fremdbestimmung als Einsicht in die Notwendigkeit gedeutet und damit die offizielle Denk- und Sprachregelung der DDR übernommen.
 

Der offizielle Marxismus-Leninismus bezog sich damit auf einen Absatz in Friedrich Engels‘ Schrift „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“. Der hatte darin ein Passage aus Hegels „Vorlesungen über die Philosophie der Religion“ zitiert. Tatsächlich enthält diese eine kürzere Abhandlung über „Die Notwendigkeit“. Die Begriffe „Freiheit“ und „Notwendigkeit“ kommen aber nicht im Sinn von Ursache und Wirkung zur Sprache. Hegel differenziert in dieser Abhandlung zunächst zwischen „äußerer Notwendigkeit“ als der „eigentlich zufälligen Notwendigkeit“ und der „inneren Notwendigkeit“. Letztere bezeichnet er als das, „was als Ursache, Veranlassung, Gelegenheit vorausgesetzt ist“. Dann kommt er zur „absoluten Notwendigkeit“. „Sie ist und enthält an ihr selbst die Freiheit: denn sie ist das Zusammengehen ihrer mit sich selbst. Sie ist schlechthin für sich, hängt nicht von anderem ab; ihr Wirken ist das freie, nur das Zusammengehen mit sich selbst, ihr Prozess ist nur der des Sichselbstfindens – dies aber ist die Freiheit.“ Das bedeutet nichts anderes als dass Freiheit die absolute Notwendigkeit ist. Nicht aber dass Freiheit Einsicht in die Notwendigkeit wäre.
 

Der Naturwissenschaftler, Kommunist und Systemkritiker Robert Havemann hat diesen Komplex 1964 in seiner Streitschrift „Dialektik ohne Dogma? Naturwissenschaftliche Aspekte philosophischer Probleme“ aufgearbeitet und damit die Bestrebungen nach einem demokratischen Sozialismus in der DDR, vor allem unter Schriftstellern, stark beeinflusst.


Im Entwicklungs- und Bildungsroman „Der Aufenthalt“, den Marcel Reich-Ranicki für den bedeutendsten Roman Kants hielt, wird die Hauptfigur Mark Niebuhr irrtümlich als Kriegsverbrecher inhaftiert. Der achtzehnjährige Niebuhr, 1944 zur Wehrmacht eingezogen, wird kurze Zeit später in Polen gefangen genommen und verdächtigt, an einem Massaker in Lublin beteiligt gewesen zu sein. Die polnischen Behörden versuchen beharrlich, seine Schuld nachzuweisen. Nach vielen Monaten, nach unzähligen Verhören und Untersuchungen, ist klar: Er ist unschuldig. Er war nie in Lublin. Er wurde verwechselt. Dennoch erträgt er die Torturen der Wachmannschaft des Kriegsgefangenlagers in stoischer Ruhe und mit sehr viel Verständnis für die Polen. Das bringt ihm, dem Jüngsten im Lager, die Häme und die Schikanen der Mitinhaftierten, unverbesserliche Nazi-Generäle und Gestapo-Leute, ein. Mark Niebuhr ist zwar frei von individueller Schuld, will sich seiner Mitschuld aber nicht entziehen. Er sieht sich als Mitläufer. Ihm wird bewusst: Ohne die vielen Mitläufer wäre die Unmenschlichkeit des Naziregimes nicht möglich gewesen.


Zu seinem Verständnis von Literatur äußerte Kant einmal: „In Literatur geschieht Umverteilung von Erfahrung. In ihr werden Vorstellungen an anderen Vorstellungen gemessen. In ihr werden Vorstellungen an Realitäten gemessen. Auch an jener Realität, die Erfahrung heißt. Gerade an ihr. In ihr werden Realitäten an Visionen gemessen. Gerade in ihr. Visionen und Illusionen sind nicht dasselbe. Aber diese kommen vor, wo jene vorkommen. Literatur lebt aus Erfahrung und Vision, und sie lebt gegen die Illusion an.“ (Zu den Unterlagen, 1981)

Parallel zu seiner Arbeit als Schriftsteller blieb Kant Funktionär in staatlichen, kulturellen und parteilichen Gremien. Im Jahr 1959 wurde er Mitglied des Deutschen Schriftstellerverbandes, Berlin (Ost), dem folgten die Mitgliedschaften der PEN-Zentren (Ost und West), des Präsidiums des PEN-Zentrums (Ost), der Akademie der Künste, Berlin (Ost). Als 1978  Anna Seghers die Präsidentschaft des Schriftstellerverbandes der DDR niederlegte, wurde er zu dessen Präsidenten gewählt; diese Funktion übte er bis 1990 aus.

Nach der Wende wurden gegen Hermann Kant verstärkt Vorwürfe erhoben. Er sei „Inoffizieller Mitarbeiter (IM)“ des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) gewesen. Dagegen hat er sich erfolgreich vor Gericht gewehrt. So durften ihn betreffende Unterlagen aus den Akten des Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen (BStU) nicht veröffentlicht werden. Enge Kontakte zu Mitarbeitern des MfS hat er hingegen nie bestritten.

Kant hat viel über das Scheitern des sozialistischen Gesellschaftsentwurfs nachgedacht und gelangte zu dem Schluss: „Das beste an der DDR war der Traum, den wir von ihr hatten. Diesem Traum bin ich immer treu geblieben.“ Er sah sich bis zu seinem Lebensende zuerst als politischer Mensch, der nie losgelöst von seinen politischen Ämtern agierte, und erst danach als Schriftsteller.

„Ein strenges Spiel“, ein Buch, dem er das Motto: „Ich will, wie lustig von mir, Herr über mein Leben sein.“, war sein Letztes. Dieses Buch entstand in der Beschäftigung mit dem eigenen Tod. Es spielt in einem Krankenhaus. Es erschien 2015.

Kants Werke wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Marcel Reich-Ranicki akzeptierte Hermann Kants schriftstellerisches Talent. Er notierte: „Dieser Schriftsteller ist ein harter und intelligenter Gegner unserer westlichen Welt. Zur Herzlichkeit haben wir wahrlich wenig Grund. Aber doch zu einer knappen, respektvollen Verneigung.“

Die DDR ehrte ihn mit zahlreichen Auszeichnungen. Darunter zweimal den Nationalpreis der DDR, den Heinrich-Heine-Preis, den Heinrich-Mann-Preis, den Goethe-Preis der Stadt Berlin. Die Universität Greifswald verlieh ihm die Ehrendoktorwürde.
 

 

Sein schriftstellerisches Werk nach 1990 umfasst folgende Veröffentlichungen:

„Abspann“, Erinnerungen, Berlin 1991,
lieferbar als Aufbau Taschenbuch, erschienen 1993

„Kormoran“, Roman, Berlin 1994,
lieferbar als Aufbau Taschenbuch, erschienen 1997

„Escape“, Ein WORD-Spiel, Berlin 1995; ist vergriffen

„Okarina“, Roman, Berlin 2002,
lieferbar als Aufbau-Taschenbuch, erschienen 2002

„Kino“, Roman, Berlin 2005,
lieferbar als Aufbau-Taschenbuch, erschienen 2007

„Kennung“, Roman, Berlin 2010, lieferbar

„Lebenslauf, zweiter Absatz“, Erzählung, Berlin 2011, lieferbar

„Ein strenges Spiel“, Erzählung, Ochsenfurt 2015; ist vergriffen

 

Zu den folgenden Filmen, die auf seinen Erzählungen und einem Roman basieren, schrieb Hermann Kant das Drehbuch:

„Ach, du fröhliche …“, (DEFA 1962),
„Mitten im kalten Winter“, (DFF 1968),
„Der Aufenthalt“, (DEFA 1983),
„Farßmann oder zu Fuß in die Sackgasse“, (DEFA 1991)

 

 

Bibliografische Angaben zur Neuerscheinung:
 

Hermann Kant
Therapie

Erzählungen und Essays
Herausgegeben von Irmtraud Gutschke
Aufbau Verlag, Berlin 2021
160 Seiten, Hardcover
Ladenpreis 22,00 Euro
ISBN 9783351038670

 

Juliane Schätze