Klaus Jost erzählt die Geschichte seiner Familie, die in Frankfurt am Main lebte. Im Vordergrund steht sein Vater, den der Zweite Weltkrieg um ein gutes Leben betrogen hat. Die Ereignisse stehen exemplarisch für das Deutschland von den 1930er bis in die 1960er-Jahre. Der Autor beleuchtet auch die Generation der Großeltern, in deren Alltag sich sowohl der Jahrhundertwechsel als auch der Erste Weltkrieg spiegelte. Und er berichtet ausführlich von der Zeit, als sich seine Eltern kennen und lieben lernen und von ihren Zukunftsplänen. Doch auf diesen Hoffnungen lasten bereits die Schatten der NS-Gewaltherrschaft, die zunächst nur von denen wahrgenommen werden, die nicht wegsehen.
Mitte 1939 wird sein Vater, Willy Jost, zur Wehrmacht eingezogen. Dass er bereits einen zweijährigen Sohn hat, den erstgeborenen Helmut, stört die Militärmaschinerie nicht. Die Ausbildung ist verkürzt, denn am 1. September beginnt mit dem deutschen Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg und ohne Soldaten lässt sich ein Krieg nicht führen. Am 10. Mai 1940 marschiert die Wehrmacht in Frankreich ein. Dabei wird die Neutralität Belgiens und der Niederlande missachtet. Beide Länder werden besetzt. Nach der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 wird Willy Jost als Besatzungssoldat ins ostfranzösische Département Côte-d’Or abkommandiert. Er versieht seinen Dienst in einer Versorgungseinheit und nutzt die Möglichkeit, Paris besuchen zu können. Der Briefkontakt mit seiner Frau ist rege. Im April 1941 kann er seinen ersten Heimaturlaub antreten. Sein Sohn Helmut ist mittlerweile vier Jahre alt.
Am 1. Mai ist Willy Jost wieder zurück bei seiner Einheit in Frankreich. Doch Anfang Juni sind die vergleichsweise ruhigen Tage zu Ende. Alles deutet auf Aufbruch hin. Vom Bahnhof des Ortes Aisey-sur-Seine aus fährt der Zug nach Osten. Hitler erlässt am 22. Juni 1941 den Angriffsbefehl gegen die Sowjetunion. Auf breiter Front durchbricht die Wehrmacht die Grenze. Willy Jost landet zunächst in Belarus, in der Nähe von Minsk. Zum ersten Mal ist er in direkte Kampfhandlungen eingebunden. Er erkrankt. Die Militärärzte diagnostizieren eine Leberentzündung, Magengeschwüre und die Gefahr eines Magendurchbruchs. Er wird konventionell behandelt, eine Operation soll vermieden werden. Viel zu früh wird er als diensttauglich eingestuft. Folglich erleidet er Rückfälle, sein Zustand verschlimmert sich.
Im Juni 1942 wird ihm ein kurzer Erholungsurlaub in der Heimat gewährt. Doch die ist bereits seit Wochen Ziel alliierter Bombenangriffe. Die Kriegsgegner wollen Industrie- und Rüstungsbetriebe zerstören und die Bevölkerung demoralisieren. Dadurch können auch Zivilisten dem Krieg kaum noch entfliehen. Der Aufenthalt zu Hause ist für Willy Jost keine wirkliche Erholung. Nach wenigen Tagen muss er zurück an die Front. Er wird in der Nähe von Stalingrad (Wolgograd) eingesetzt. Hier tobt bereits eine der blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs. Im September hat die Wehrmacht 90 Prozent der Stadt erobert. Doch mit dem frühen Winter kommt die Wende. Den deutschen Soldaten mangelt es an geeigneter Kleidung, der gesamte Nachschub einschließlich Waffen und Munition dringt nicht zu ihnen durch. Die 6. Armee ist eingekesselt. Im Februar 1943 muss sie kapitulieren. Die anderen Heeresteile beginnen den Rückzug nach Westen.
Willy Jost erkrankt erneut. Im Juni 1943 schicken ihn seine Vorgesetzten zur Behandlung nach Frankfurt. Er bleibt zehn Tage. Dann muss er zurück. Der Abschied fällt schwer. Denn es könnte ein Abschied für immer sein. Die Ostfront, an der er wieder eingesetzt wird, ist längst keine einheitliche Kampflinie mehr. Zwar versucht das Kommando der Wehrmacht im Juli 1943 eine neue Offensive. Doch die deutschen Truppen werden versprengt. Jost verliert zusammen mit anderen den Anschluss. Auf dem Rückzug gerät er im Kaukasus, in der Nähe von Tiflis, in sowjetische Gefangenschaft. Es beginnt eine mühselige Reise durch mehrere Gefangenenlager, teils in Fußmärschen, teils in offenen Eisenbahnwaggons. Endstation ist ein Kriegsgefangenenlager in Sibirien. Der Feldpostkontakt zu den Angehörigen ist abgebrochen. Die Nachricht von der Schwangerschaft seiner Frau erreicht Willy Jost auf Umwegen. Seine Antwort kommt jedoch nicht mehr an. Zumindest vorerst nicht.
Das Kind aus dem letzten Heimaturlaub ist Klaus. Er kommt 1944 auf die Welt und vermisst den Vater, den er nicht kennt und von dem niemand weiß, ob er noch lebt. Seine frühe Kindheit ist bestimmt von der Beziehungssuche. Die Fotos im Schuhkarton trösten ihn und beflügeln seine Fantasie. Auch darum ist der kleine Klaus ein aufmerksamer Beobachter. Früh lernt er, dass man die Erwachsenen, vor allem die Mutter, schonen muss, damit sie nicht noch trauriger werden. Seine eigene Traurigkeit, seine Gefühle von Angst, Trauer und Verlassenheit muss er mit sich selbst ausmachen, auch die frühen Erfahrungen von Demütigung und Misshandlung im Kinder-Erholungsheim und später im katholischen Internat.
Als der Vater vier Jahre nach Kriegsende aus russischer Gefangenschaft nach Hause kommt, entspricht er so gar nicht dem Bild, das sich Klaus von ihm gemacht hat. Der Vater, Willy Jost, ist ein fremder Mann, der große Probleme hat, seinen Platz in der Familie und in der Gesellschaft wiederzufinden. Das Familienleben gestaltet sich schwierig, gemeinsame Augenblicke des Glücks sind selten. Fremdheit und Distanz verbleiben bis ins Erwachsenenalter hinein. Erst die zum Tode führende Erkrankung des Vaters bringt die lang ersehnte Nähe und Anerkennung.
Es ist eine Erzählung von Trauer und Schmerz, Hunger und Entbehrung, aber auch von großer Hoffnung und Zuversicht, Trost, Freundschaft und gelebter Solidarität in der Gemeinschaft, eine Erzählung auch voll Lebensfreude und ungewollter Komik.
Die Kinder im Nachkriegsdeutschland bleiben weitgehend sich selbst überlassen. Sie schaffen sich ihre eigene Welt, eine Welt voller Abenteuer und einer Freiheit, die sich der Kontrolle der Erwachsenen entzieht.
Ebenso wie die Familie kämpft sich die junge Bundesrepublik zurück in ein normales Leben. Die persönlichen Erlebnisse sind eingebettet in einen zeitgeschichtlichen Zusammenhang, der den gesellschaftlichen Geist des jeweiligen Zeitabschnittes erfahrbar macht, bis hinein in die 1968er-Jahre, die der Autor als Student der Frankfurter Universität erlebt.
„Papa im Schuhkarton“ ist eine der Geschichten, die erzählt werden müssen, solange sie noch erzählt werden können. In ihr spiegeln sich die Erfahrungen vieler Familien, deren Pläne, Hoffnungen und Wünsche ein sinnloser Krieg jäh zerstörte.
Klaus Jost studierte Psychologie und promovierte zum Dr. phil. Er arbeitete über zwei Jahrzehnte an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Anschließend war er Leiter einer psychologischen Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche. Außerdem war er Lehrbeauftragter an der Universität und Fachhochschule in Frankfurt. Bis zu seiner Pensionierung war er Dozent am Ketteler-Krankenhaus in Offenbach.
Er verfasste mehrere Bücher über Depression, Suizidalität, Ursachen von Aggression und Gewalt sowie zur Straftäterbegutachtung.
Bibliografische Daten
Klaus Jost
Papa im Schuhkarton
Aufgewachsen zwischen Krieg und Frieden
Biografische Erzählung
270 Seiten. Softcover
Berlin 2021
Lehmanns Media
ISBN 978-3-96543-168-3
Ladenpreis 12,95 Euro
Klaus Philipp Mertens

