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76. PRO LESEN-Themenwoche November 2018: Religion contra Vernunft?

Erich Fromms sozialpsychologische Perspektive

Theologie und Philosophie haben „Gott“ unterschiedlich interpretiert: als Schöpfer der Welt, als übernatürliche allmächtige Person, als Idee und als permanente Vision. Es kommt bei der Klärung der Jahrtausende alten Frage darauf an, den so genannten heiligen Texten auf die Spur zu kommen und sich dabei von allem Illusionären zu befreien. Hierbei erweist sich das Alte Testament, also die Hebräische Bibel, als besonders hilfreich, geradezu als ein nicht-theistisches Manifest. Denn dort stehen unzählige widersprüchliche Aussagen über einen Schöpfer, Anzubetenden, Rächer, Weltherrscher und Erlöser nebeneinander und veranschaulichen einen dynamischen Prozess des menschlichen Bewusstwerdens. In über 1.000 Jahren wurde aus einem archaischen Erklärungsansatz zum Verständnis der Welt die Vision einer humanistischen Zeit, der endgültigen in der Menschheitsentwicklung: „Ihr werdet sein wie Gott“.
So lautet auch eine religionsphilosophische Abhandlung des Sozialpsychologen Erich Fromm, erschienen 1960, die im deutschsprachigen Raum auch unter dem Titel „Die Herausforderung Gottes und des Menschen“ (Zürich 1970) veröffentlicht wurde. Die Quintessenz seines Buch lässt so zusammenfassen: Im Anfang schuf der Mensch die Götter, dann einen universalen Gott, schließlich die Idee vom göttlichen Menschen.

Am Beispiel der religionsphilosophischen Texte des Sozialpsychologen Erich Fromm skizzieren wir das Wechselverhältnis von Philosophie, Theologie und gesellschaftlichem Bewusstsein. Fromm hat der Rezeption der Kant’schen Gedanken die Theologie des deutschen Reformjudentums an die Seite gestellt und zahlreiche Übereinstimmungen gefunden. Insbesondere der Neukantianer Hermann Cohen (1842 - 1918) hatte in seinem Werk „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ gemeinsame Wege gewiesen – Wege, die ab 1933 durch den Nazi-Terror abgeschnitten wurden und bis heute über weite Strecken unpassierbar geblieben sind.

Das Plakat zu dieser Themenwoche gibt ein Gemälde des amerikanischen Malers Thomas Cole (1801 - 1848) wieder, das den Titel trägt „Der Pokal des Riesen“. Es veranschaulicht die Relativität, mit welcher der Mensch seine Umwelt und sich selbst wahrnimmt. Wer im Mikrokosmos des Pokals lebt, erlebt die Welt als riesigen See, an dessen Ufern sich Berge, Täler und Ebenen erstrecken. Einige Landschaften sind besiedelt, in anderen ist die Natur noch unberührt. Über allem erstreckt sich der sichtbare Himmel, den Mikro– und Makrokosmos gemeinsam haben. Doch letzteres wissen die Menschen, die auf ihre kleine Welt konzentriert sind, nicht.

Wenn sie ihr Leben und ihre Zukunftshoffnungen in Bildern und Geschichten fassen würden, kreiste ihre Phantasie um das innerhalb des Pokals Erfahrbare. Ihre Vorstellungen vom Ursprung der Welt, von dem sie auch den Sinn ihres Lebens ableiteten, bewegten sich um übernatürliche Wesen. Vielleicht um einen Riesen, der die Erde auf seinen Schultern trägt. Oder sie erzählten sich von einem Paradies, das von Göttern gestiftet worden war, in dem Harmonie zwischen Menschen, Tieren und Pflanzen herrschte und in dem der Tod unbekannt war.
Doch solche Idyllen haben den Menschen nie ausgereicht. Sie wollten mehr, es drängte sie nach umfassender Erkenntnis und selbstständigem schöpferischen Handeln. Damit forderten sie die Götter heraus, beanspruchten gar Anteile an der göttlichen Allmacht. Zur Strafe wurden sie aus dem Paradies verjagt, mussten ihr Dasein in einem mühevollen Kampf mit der Natur bestreiten und sich mit einem Leben abfinden, das endlich sein würde. „Ein Mensch ist in seinem Leben wie Gras; er blüht wie eine Blume auf dem Felde, wenn der Wind darüber weht, so ist sie nimmer dar und ihre Stätte kennt sie nicht mehr“ - so heißt es poetisch im 103. Psalm, der weisheitliche Erfahrungen vieler Generationen zusammenfasst.
 

Das Bild vom verlorenen Paradies, von der vermeintlichen Erbsünde des Menschen, der sich dem Willen der Götter widersetzte und seither nach der Wiedererlangung des Verlorenen trachtet, zieht sich in unterschiedlichen Formen durch viele Religionen.

Diese menschlichen Utopien verleihen dem Alten Testament, der Hebräischen Bibel, eine auf den ersten Blick paradoxe Perspektive. Der Philosoph und Kulturkritiker Walter Benjamin (1892 – 1940), der sowohl den Neukantianern als auch der „Kritischen Theorie“ nahe stand, sprach von „erinnerter Zukunft und erhoffter Vergangenheit“ (in seiner Schrift „Ein Sturm vom Paradiese her“).

Doch bereits mit der Aufklärung wird die Hypothese „Gott“ nicht mehr im Kontext einer metaphysischen Person ohne menschliche Eigenschaften gesehen, sondern als das veränderbare Ergebnis eines dynamischen Denkprozesses, der auf die Vervollkommnung des Menschen zielt. Jüdische Theologien wie Philon von Alexandria (15 v.Chr. – 40 n.Chr.) und Maimonides (1135 – 1204) haben dazu die Grundlagen gelegt. Gotthold Ephraim Lessing und Immanuel Kant haben das aufgenommen und stringent weiterentwickelt, wobei Lessing schließlich eine radikalere Position einnahm als Kant. Besonders deutlich wird das an seiner Veröffentlichung vom Hermann Samuel Reimarus‘ Religionskritik („Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“) als „Wolfenbütteler Fragmente“ ohne Nennung des eigentlichen Autors. Die „Fragmente“ haben die Leben-Jesu-Forschung angestoßen und erwiesen sich auch für die historisch-kritische Erforschung des gesamten Bibel als wegweisend.

Immanuel Kant (1724 - 1804)
Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft
Religionsphilosophisches Werk, erschienen 1793

Diese »philosophische Religionslehre« Kants beruht auf den Grundsätzen seiner kritischen Philosophie. Der Titel begrenzt den Begriff der Religion auf die Vernunftreligion oder »rein moralische Religion«:Wahre, also rein moralische Religion bedeutet, dass wir Gott für alle unsere Pflichten als den allgemeinen und nicht nur durch besonderen Gottesdienst zu verehrenden Gesetzgeber ansehen.

Gleichwohl ist Religion für Kant mehr als angewandte Ethik. Nur in ihrem Bereich gilt der Satz: »Der Mensch ist von Natur böse«. Als Menschen machen wir die Erfahrung, dass wir in den Maximen unseres Handelns von dem erkannten moralischen Gesetz abweichen können, und darin zeigt sich unser ursprünglicher Hang zum Bösen oder Irrationalen, der jeder einzelnen unserer Taten vorhergeht und ihnen allen zugrunde liegt. Logischerweise  muss er das Ergebnis einer Ur-Tat sein, die im Bereich der Vernunft selbst und außer aller Zeitbedingtheit geschieht und darum auch nur durch Vernunft erfassbar ist. In diesem Hang wird ein radikales, angeborenes Böses offenbar, wie es die Bibel im Mythos vom Sündenfall beschreibt. Der gefallene Mensch erkennt jedoch zugleich, dass er zum Wiederaufstehen eines höheren Beistands bedarf. Die Achtung für das moralische Gesetz haben wir nie verlieren können, wir müssen aber die ursprüngliche Reinheit des Sittengesetzes als des obersten Grundes aller unserer Maximen wiedergewinnen. Das ist nur durch eine Revolution unserer Denkart, eine Wiedergeburt, eine Änderung des Herzens möglich, aber Hand in Hand mit einer allmählichen Reform unserer Sitten, einem Fortschritt zum Guten hin. Dazu weist die Religion in ihrem vernünftigen Kern den Weg: das gute Prinzip, auf das sich jene Revolution gründet, ist die Menschheit in ihrer moralischen Vollkommenheit, bildlich gesprochen: das Göttliche oder der Sohn Gottes. Im praktischen Glauben daran oder, was dasselbe ist, an die Idee der Menschheit kann der Mensch hoffen, Gott wohlgefällig zu werden. Zu solchem Streben sind wir jedoch nur in Gemeinschaft fähig, in einem ethischen Gemeinwesen, einer Kirche. Damit ist die unsichtbare im Gegensatz zur sichtbaren Kirche gemeint, die immer von einem historischen (Offenbarungs-) oder einem statuarischen (Geschichts-)Glauben ausgeht. Die vielen sichtbaren Kirchen verdanken ihre Existenz nur der Schwäche der menschlichen Natur. Die Offenbarung dagegen, sei sie real oder fiktiv, sieht Kant im Sinne Lessings gerechtfertigt durch ihre Bedeutung für den geistigen Fortschritt der Menschheit, die ihrer freilich nur so lange bedurfte, als sie noch geistig unmündig war.

Im Übergang vom Kirchenglauben zum reinen Religions- oder Vernunftglauben nähern wir uns nunmehr dem Reich Gottes bzw. dem Reich der Menschen, das von göttlichem Geist geprägt ist. Da­mit wird die Religionsphilosophie zur Religionskritik und letzt­lich zur ideellen Grundlage eines Humanismus ohne Gott.

Wie andere Schriften seiner Altersjahre wies auch Kants Religionsschrift eine betont aufklärerische Tendenz auf. Darum sollten die vier Teile nacheinander in Biesters „Berlinischer Monatsschrift“ erscheinen und einem breiteren Publikum zugänglich sein. Der erste passierte die durch das Wöllnersche Religionsedikt von 1788 (mit dem die Toleranz Friedrich II. ein Ende fand) gebundene Zensurbehörde ohne Anstoß, während dem zweiten das Imprimatur verweigert wurde, da er Glaubensgrundsätze infrage stellte. Nunmehr legte Kant das Ganze als »philosophische Religionslehre«der Philosophischen Fakultät in Jena zur Zensur vor. Dort gab er es auch zum Druck.
 

Eine Kabinettsorder Friedrich Wilhelms II. warf ihm jedoch 1794 »Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundlehren der Heiligen Schrift und des Christentums«vor und untersagte die Behandlung der Schrift im akademischen Unterricht, worauf Kant gelobte, »als Euer Majestät getreuester Untertan« sich weiterer Erörterungen der Religion zu enthalten. Nach dem Tode des Königs sah er sich jedoch an diese Zusage nicht mehr gebunden.

Die Schrift erregte aber auch bei aufgeklärten Geistern Widerspruch. So schrieb Goethe an Herder, Kant habe „seinen philosophischen Mantel…freeventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen“.

 

Hermann Cohen (1842 - 1918)
Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums
Religionsphilosophisches Werk, erschienen 1919

Hermann Cohen gilt zusammen mit Paul Natorp als Gründer der „Marburger Schule“ des Neukantinismus. Sein nachgelassenes Hauptwerk ist eigentlich eine jüdische Religionslehre, die jedoch geprägt ist vom Geist der Cohenschen rationalen Philosophie und seinem historisch-kritischen Verständnis der Quellen des Judentums.

Nach drei einführenden Kapiteln über die Vernunft, Religion und Literaturquellen kreist das Werk um sein zentrales Thema: die Einzigkeit Gottes. Der Gott, der sich in 2. Mose 3, als der stets Seiende offenbart, wird vor allem als »einzigartig« charakterisiert. Die Bedeutung dieser Einzigkeit liegt nicht in der Einzahl, sondern in der Unvergleichbarkeit von Gottes Sein mit allem anderen Sein. Gott hat keine Attribute, die ihm anhaften; aber in 2. Mose, 34, zeigt er die Eigenschaften, die der Mensch nachahmend verwirklichen kann.

Die Religion entdeckt das Individuum als »Mitmenschen« durch die Kraft des Mitleids mit dem Armen und dem Verlassenen. Durch diese Entdeckung wird der Mensch auch selbst erst »Ich«.

Es ist entgegen einer oft vertretenen Ansicht festzustellen, daß Cohen durch seine Religionslehre keineswegs sein philosophisches System gesprengt hat. Die Grundpfeiler seines religiösen Denkens waren bereits in den systematischen Schriften, insbesondere in der Ethik des reinen Willens (1904) gesetzt. Freilich hatte er in der Ethik das Problem des einzelnen, der in Korrelation mit Gott tritt, noch nicht zu Ende gedacht.

Aber die Idee „Gott“ war schon immer ein Hauptmotiv seines Denkens gewesen: Diesem zufolge gibt es zwei Welten: die Welt des Seins und die Welt des Sollens. Die Naturwissenschaft entdeckt die Gesetze des Seins, die Ethik und die mit ihr verbundene Rechtswissenschaft erkennen das Sollen. Die Naturwissenschaft kann aber immer nur sagen, ob eine Entdeckung »richtig« ist; oberhalb und jenseits der Richtigkeit steht der Begriff der Wahrheit, der bei Cohen von eigener Art ist. Wahrheit ist der Zusammenhang von Sein und Sollen. Und Wahrheit ist Gott. Gott garantiert gleichsam, dass dem menschlichen Ethos immerdar eine physische Welt gegenübertritt, in der sich und durch die sich das Ethos ver­wirklichen kann. Das Vertrauen auf die Verwirklichung ist Vertrauen auf Gott und  Glaube an ihn - obwohl er namen– und gestaltlos  und mit menschlichen Attributen nicht fassbar ist.
Hatte Cohen auch niemals an der Existenz Gottes gezweifelt, so stand er doch als echter Sohn der Aufklärung viele Jahre hindurch der positiven Religion skeptisch gegenüber. Nur schwer entschloss er sich, der Religion »Eigenart« im System der Kultur zuzugestehen, eben weil sie das Phänomen des einzelnen und seiner Korrelation mit Gott darstellt. Niemals aber gestand er ihr Selbständigkeit gegenüber der Ethik zu.
Erich Fromm ließ sich von Cohens „Religion der Vernunft“ inspirieren, was sich in seinem eigenen Werk „Ihr werdet sein wie Gott“ niederschlug.

Hinweise zur Abbildung auf Plakat und Programmheft.
Die Grafik basiert auf dem Gemälde von Thomas Cole (1801 - 1841): "Der Pokal des Riesen".

Terminhinweise

Buchausstellung vom 19. - 24. November 2018 im Bibliothekszentrum Sachsenhausen während der Öffnungszeiten der Bücherei

22. November, 19:00 – 20:30 Uhr
 

Donnerstagabend-Lesung am Büchertisch im Bibliothekszentrum Sachsenhausen
Szenische Lesung aus Erich Fromms "Ihr werdet sein wie Gott"
 

Anschließend Publikumsgespräch

Der Eintritt ist frei