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Archiv "Themenwochen"

89. PRO LESEN-Themenwoche

Die Strudlhofstiege

Heimito von Doderer und seine Welt

 

„Wer sich in Familie begibt, kommt darin um.“
Ein Plädoyer für eine Neu- oder Wiederentdeckung des Schriftstellers Heimito von Doderer

Der österreichische Schriftsteller Heimito von Doderer (1896 - 1966) zählt zu den bedeutendsten Autoren seines Landes. Die ihm gebührende Anerkennung gründet sich einerseits auf seiner sowohl extrem präzisen als auch äußerst farbigen, nahezu lyrischen Sprache. Und andererseits auf seiner analytischen Fähigkeit, die gesellschaftlichen Strukturen von K.u.K.-Monarchie und dem Rest-Österreich nach Erstem Weltkrieg mit dem Mittel der literarischen Erzählung am Beispiel fiktiver, aber typischer Menschen dieser Zeit offengelegt zu haben.

Doderer war Bürger aller politischen Systeme Österreichs vom Ende des 19. bis über die Mitte des 20. Jahrhunderts. Zwischen 1933 und 1939 unterlag er dem falschen Glanz des so genannten Dritten Reichs, von dem er sich anscheinend eine Rückkehr zur Universalität des ehemaligen Vielvölkerstaats versprochen hatte; mutmaßlich spielte auch eine erwartete, aber nie eingetretene Förderung seiner künstlerischen Arbeit durch das neue Regime eine Rolle. Allerdings erkannte er schließlich die verhängnisvolle Entwicklung, auf die er sich eingelassen hatte und vollzog eine deutliche Trennung. Er verbrannte sämtlicher Parteidokumente und konvertierte zur Katholischen Kirche. Diese Umkehr kommt in seinem Hauptwerk, dem Roman „Die Dämonen“ (1956 erschienen), zum Ausdruck.
 

Dieses Buch von über 1300 Seiten Umfang knüpft an den Brand des Wiener Justizpalastes am 15. Juli 1927 an, der zum Wegbereiter des Austro-Faschismus wurde. Ein Geschworenengericht hatte kurz vorher Mitglieder des nationalistischen Frontkämpferbunds vom Vorwurf des Mordes an Teilnehmern einer sozialdemokratischen Versammlung freigesprochen. Daraufhin gerieten Frontkämpfer auf der einen Seite, Beschäftigte der Wiener Elektrizitätswerke und sozialdemokratisch-republikanische Schutztruppen auf der anderen aneinander. Während der Auseinandersetzung gelang es einigen Demonstranten, das Gerichtsgebäude in Brand zu setzen. Die Straßenschlacht forderte über 80 Todesopfer. Das Ereignis war auch Initialzünder für die Wiener Arbeiteraufstände in den 1930er Jahren. Doderer beschreibt die Geschehnisse am Handeln von Personen, die zu einem Teil auch in seinem Roman „Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre“ vorkommen.
 

Mit letzterem war er 1951 berühmt geworden. Der im selben Jahr erschienene Band „Die erleuchteten Fenster“ und der bereits seit 1938 vorliegende „Ein Mord, den jeder begeht“ erlangten erst mit der zunehmenden Bekanntheit der „Strudlhofstiege“ allmählich die Aufmerksamkeit des lesenden Publikums.
 

Die Strudlhofstiege, eine Treppenanlage im 9. Wiener Gemeindebezirk („Alsergrund“), ist mit ihrer Aura »der eigentliche Hauptacteur«. Sie ist Zentrum eines breit angelegten Zeitromans mit vielen Figuren, unter denen der im Grunde unbedeutende Melzer, ein nach dem Ersten Weltkrieg verabschiedeter Major, mittlerweile Beamter der staatlichen Tabakregie im Österreich der 1920er Jahre, eher formal hervorragt. Den Hintergrund des Geschehens bildet seine gescheiterte Beziehung zu Mary K., die 1925 bei einem Trambahnunfall, auf dendie Gesamthandlung perspektivisch zuläuft, ein Bein verliert. Da hat aber Melzer seine Liebe zur zwar schlichten, aber warmherzigen und sehr attraktiven Thea Rokitzer längst als die richtige erkannt. Einen weiteren Schwerpunkt des Romans bildet die Familie Stangeler, vor allem deren Sohn René (unzweifelhaft Doderers Alter Ego) und dessen Schwestern Asta und Etelka. Letztere begeht in einer depressiven Lebensphase Suizid.
 

Die Stiege symbolisiert das Hin- und Hersteigen zwischen den beiden Haupthandlungszeiträumen 1911 und 1925. Die Art, unmittelbare Erinnerung zu simulieren, entspricht dabei weitgehend Marcel Prousts Erzählweise. Im kurzen Kontakt zwischen Vergangenheit und Gegenwart scheinen beide Punkte identisch zu sein. Die Menschwerdung, wenn sie positiv verläuft, ist das Hauptanliegen in Doderer Roman. Sie läuft darauf hinaus, mit dem eigenen Leben eins zu werden, erwachsen zu werden und die Welt erkennen zu können.
 

Der Roman besteht aus vier Teilen ohne Kapitelgliederung. Der Autor tritt als allwissender Erzähler auf. Doderer spielt dabei mit der Chronologie: Das Buch beginnt 1923, aber bereits der erste Satz nimmt Bezug auf den Schluss im Jahr 1925. Die beiden ersten Teile sind geprägt von häufigen Rückgriffen auf 1911, aber auch auf andere Phasen nach dem Ersten Weltkrieg, der ausgespart bleibt. Der dritte und vierte Teil hingegen sind vom Sommer bis zum Herbst 1925 durcherzählt. Der umfangreiche, 900-seitige Roman »Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre«gilt als Heimito von Doderers Meisterwerk – als sein Hauptwerk hingegen bezeichnete er selbst „Die Dämonen“.
 

Hervorzuheben aus dem vielfältigen literarischen Nachlass ist auch der Roman „Die Wasserfälle von Slunj“. Er war ursprünglich als erster Teil einer Tetralogie geplant, die unter dem Titel „Roman No 7“ erscheinen sollte. Damit spielte Doderer auf die von ihm hochgeschätzte 7. Symphonie Ludwig van Beethovens an. Es war sein Ziel, eine Folge miteinander verbundener Erzählungen zu schaffen, deren literarische Aussage den Ausdrucksmöglichkeiten der Musik würde standhalten können.
Den zweiten Teil, „Der Grenzwald“, konnte er noch zu einem großen Teil niederschreiben, er blieb aber wegen seines Todes am 23.12.1966 unvollendet.
 

Neben den bereits erwähnten Romanen lohnt sich auch die Lektüre von „Die Merowinger oder Die totale Familie“ sowie die Bände mit früher Prosa und gesammelten Erzählungen, die in der neunbändigen Reihe „Das erzählende Werk“ bei C. H. Beck lieferbar sind. Von einigen Büchern gibt es bei C. H. Beck auch wohlfeile Sonderausgaben. Aufschluss über die Persönlichkeit Doderers gibt das Tagebuch der Jahre 1940 bis 1950, das unter dem Titel „Tangenten“ erschienen ist.

In letzterem findet sich unter dem Datum des 18. Oktober 1951 noch der Eintrag:
„Wenn ich mich frage, was ich denn eigentlich und wirklich haben möchte und mir wünschte: so wäre es – viel Geld, um in einer Folge schwerster sexueller Excesse, sinnloser Saufereien und dementsprechender Gewalthändel endgültig unterzugehen. Statt dessen hab’ ich das weitaus gewagtere Abenteuer der Tugend gewählt.“