Archiv "Vom Geist der Zeit" | Philosophie und Theologie

Gott im Angebot

Anmerkungen zur Hilflosigkeit der evangelischen Kirche

© EKHN

Die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau (EKHN) hat 900.000 Briefe an ihre insgesamt 1,4 Millionen Mitglieder versandt. Damit sollen „Menschen am Rande des Christentums“ erreicht werden. Mit dem Slogan „Gott: Ich bin da - trotzdem“ will man speziell dieser Gruppe vermitteln, dass die Kirche Rückhalt in schwierigen Zeiten bieten könne. Denn vor allem Skeptiker finden in der christlichen Botschaft kaum noch Perspektiven für die je eigene Lebensgestaltung, erst recht nicht in schwierigen Situationen. Der Austritt ist dann die übliche Konsequenz. In Hessen-Nassau haben das im letzten Jahr immerhin 31.000 Evangelische getan, mehr als jemals zuvor. Ob allerdings ein Impulsbrief, der das „Vater unser“ oberflächlich und ziemlich dogmatisch erklärt, dazu geeignet ist, die Massenabwanderung zu stoppen, steht dahin.

 

Die evangelische Theologie war bereits vor Jahrzehnten weiter als es die offizielle Kirche heute ist. Mit Paul Tillich, Rudolf Bultmann, Dietrich Bonhoeffer, Herbert Braun, Dorothee Sölle oder Gerd Lüdemann hatte der Protestantismus bereits große Schritte in die säkulare Wirklichkeit unternommen. Nach ihnen gab und gibt es nur Rückschritte, allenfalls ein Verharren zwischen diversen dogmatischen Positionen.

 

„Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in der Welt leben müssen - »etsi deus non daretur« (so als ob es Gott nicht gäbe)“. Dietrich Bonhoeffer zitierte in seinem Brief an Eberhard Bethge, verfasst in düsterster Zeit, den niederländischen Philosophen und Theologen Hugo Grotius (1583 - 1645). Der Aufklärer aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs sah im Streben nach Gerechtigkeit einen ursprünglichen und eigenständigen Prozess des menschlichen Seins, der auch wirken würde, falls (ein) Gott nicht existierte.

 

Der evangelische Theologe Herbert Braun resümierte aus diesen und ähnlichen Äußerungen von „Gebildeten unter den Verächtern“ (Schleiermacher): „Gott ist das Woher meines Geborgen- und meines Verpflichtetseins vom Mitmenschen her…Gott ist dort, wo ich in Pflicht genommen, wo ich engagiert bin…Der Mensch als Mensch, der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit impliziert Gott.“

 

Alle, die sich mit Theologie professionell beschäftigen, haben das gelernt und mussten in den Examen ihre Kenntnisse beweisen. Einige haben möglicherweise auch das Buch des englischen Bischofs John A. T. Robinson gelesen und verinnerlicht. In der deutschen Übersetzung lautet sein Titel: „Gott ist anders“. Es erschien 1963 und machte vor allem Bultmanns Entmythologisierung des Neuen Testaments sowie allgemein die Ergebnisse wissenschaftlicher Bibelforschung breiteren Kreisen bekannt. Wer sich für den Beruf des Pfarrers bzw. der Pfarrerin entschied, hat vermutlich die Warnungen mancher Examinatoren noch im Gedächtnis, dass sich die wissenschaftliche Theologie nicht für die Verkündigung eigne. Lediglich im akademischen Bereich gelte die historisch-kritische Erforschung der Bibel, auf der Kanzel sei der kerygmatische (verkündigte) Christus zur Sprache zu bringen. Denn man dürfe die Erwartungen der frommen Gemeinde nicht enttäuschen.

 

Doch mit dieser Einschätzung scheint man falsch zu liegen. Auch die Kirchen der Reformation verlieren Gerechte und Ungerechte. Die Austritte steigen von Jahr zu Jahr. Aus der EKD-Studie „Christsein gestalten“, die 1986 diese Entwicklung voraussagte, falls sich nichts substanzielles ändere, hat man keine Konsequenzen gezogen. Inhaltliches wurde nicht zur Disposition gestellt. Stattdessen stritt man sich intern um die mediale Vermittlung, nicht zuletzt über die Nutzung der asozialen Medien. Faktisch dekoriert man seit Jahr und Tag aufwändig ein Schaufenster, doch drinnen im Laden fehlt es an allem. Gott ist eben nicht da. Letzteres wäre im Sinn von Grotius und Bonhoeffer hinzunehmen.

 

Aber auch die Kirche ist nicht präsent. Friedlich-schiedlich schleicht sie sich an den meisten Brennpunkten des Lebens vorbei. So engagiert sie sich zwar bei den Tafeln für Arme, aber sie fordert diese Daseinsvorsorge nicht bei der Politik ein. Während Millionen Menschen eine bezahlbare Wohnung suchen, kommt kein Bischof, kein Kirchenpräsident und kein Landessuperintendent auf die Idee, kaum noch genutzte Kirchen und Gemeindehäuser zu Wohnungen umzubauen und auf kirchlichen Ländereien neue Mietshäuser zu errichten. Gott würde sicherlich dort wahrgenommen werden, wo die Kirche den Menschen eine würdige Herberge anbietet. Das ist doch das Anliegen von Lukas‘ Weihnachtslegende. Derselbe Evangelist notierte auch vermeintlich Anstößiges: „Meinet ihr, dass ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht“ (Kapitel 12, Vers 51). Damit drückt er aus, dass es keine Umwege um die Herausforderungen der Welt gibt. Bonhoeffer nannte es die „billige Gnade“ und meinte damit die Gnade, welche die Menschen mit sich selbst haben. Diese Haltung laufe auf die Rechtfertigung der Sünde, aber nicht des Sünders hinaus.

 

Wenn die Kirche durch ihr Reden und Handeln solche Mutmaßungen nicht ausschließt, fördert sie Vorurteile; sie bereitet dem Unglauben und dem Nichtglauben den Weg. Dann wird die Reaktion der Angesprochenen auf „Gott: Ich bin da … trotzdem“ lauten: Vielleicht. Aber bestimmt nicht bei euch.

 

 

Klaus Philipp Mertens