Archiv "Vom Geist der Zeit" | Literatur und Kultur

Vom Mythos derer, die sich als Opfer fühlen

Eine kritische Würdigung Wolfgang Borcherts aus Anlass des 100. Geburtstags

Sonderbriefmarke der Deutschen Post von 1996 zur Erinnerung an Wolfgang Borchert © Deutsche Post

„Ihr Deutschland ist draußen, nachts im Regen, auf der Straße, das ist ihr Deutschland." So leitet Wolfgang Borchert den Prolog zu seinem Stück „Draußen vor der Tür“ ein, das am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt wurde – einen Tag nach dem Tod des Dichters, der am 20. Mai 1921 in Hamburg geboren worden war. Das Drama erinnert stark an Ernst Tollers „Hinkemann“, einem Leidtragenden des Ersten Weltkriegs, dessen Aussagen aber politisch eindeutiger sind.
Der Kriegsheimkehrer Beckmann wird mit den Worten angekündigt: „Einer von denen, die nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist. Und ihr Zuhause ist dann draußen vor der Tür.“
Solche Worte trafen Ende der 1940er und Anfang der 1950er Jahre sowie noch lange danach den Geist der Zeit. Denn ein großer Teil der Deutschen musste nach dem Krieg versuchen, das Leben neu in den Griff zu bekommen. Dabei haben sich einige die Frage nach ihrer jeweiligen moralischen Mitverantwortung für die Katastrophe gestellt. Andere haben den Krieg als ein Schicksal aufgefasst, dem man nicht entrinnen konnte. Und nicht wenige haben Haltung und Moral verwechselt mit dem korrekten Handeln, das ihnen als Soldat abverlangt worden war. Jedoch waren die Heimkehrer nur eine Seite des Zweiten Weltkriegs. Die andere bestand aus Gefallenen, Verstümmelten und Ermordeten, also aus jenen, für die es keine Hoffnung mehr gab. Die nicht nur draußen vor der Tür standen, sondern deren Leben getilgt worden war. Als in Kauf genommene Kollateralschäden. Oder als des Lebens Unwürdige.
 

Der Unteroffizier Beckmann, der nach drei Jahren sowjetischer Gefangenschaft aus Sibirien zurückkehrt, ist einer von denen, die nach Hause kommen, ihr Zuhause aber nicht mehr finden. Und das nicht nur, weil die Heimat zu einer Trümmerlandschaft zerbombt worden war. Seine Frau lebt mit einem anderen Mann zusammen. Er humpelt, weil ihm eine Kniescheibe weggeschossen wurde, ist zerlumpt, ein alter Militärmantel schützt ihn notdürftig vor Kälte und Nässe, er trägt in Ermangelung einer richtigen Brille eine Gasmaskenbrille. Seine Verzweiflung artikuliert sich in einem Traum, in dem er sich endgültig aufgegeben hat und aus dem Leben scheiden will. Er geht an die Elbe, stürzt sich in den Fluss. Doch die Elbe will ihn nicht; bei Blankenese wirft sie ihn wieder ans Ufer.
 

Als er realisiert, einen Alptraum erlebt zu haben, kehrt sein Überlebenswille in Gestalt eines Alter Egos zurück. Beckmann nennt es den „Anderen“. Es ist die Quelle eines verhaltenen, sehr skeptischen Lebensmuts und wird ihm noch mehrfach zur Seite stehen.
In dieser Situation zwischen Kapitulation vor der Realität und Lebenwollen begegnet ihm eine junge Frau. Sie nimmt ihn mit in ihre Wohnung und schenkt ihm die Jacke ihres Mannes, der seit der Schlacht um Stalingrad vermisst wird. Als sich Beckmann mit den neuen Umständen gerade abgefunden hat, klopft es. Der vermisste Ehemann, vom Krieg schwer gezeichnet, humpelt herein, er hat ein Bein verloren. Beckmann glaubt, in ihm einen Soldaten seines Spähtrupps zu erkennen, neben ihm vermutlich der einzige weitere Überlebende. Erneut fühlt er sich als überflüssig, fürchtet gar, sich vor dem ehemaligen Kameraden rechtfertigen zu müssen.
Wütend sucht er seinen ehemaligen Oberst auf und will ihm die übertragene Verantwortung zurückgeben, hofft auf eine Entlastung. Doch der lacht ihn aus, hält Beckmanns Begehren gar für eine schlecht vorgetragene Humoreske.
Der Rauswurf verleitet ihn dazu, tatsächlich in einem Kabarett um Arbeit nachzusuchen. Da seine dilettantischen Bänkellieder ausschließlich um das Leid des Krieges kreisen, komplimentiert ihn der Direktor hinaus und empfiehlt ihm, das Thema zu wechseln. Denn wer wolle heute noch etwas von der Wahrheit wissen.
 

Beckmann verdrängt die Not in einem Traum. Darin begegnet er einem weinerlichen alten Mann, dem „lieben Gott“, und einem Straßenkehrer, der sich als der Tod entpuppt. Für das Leben, insbesondere für das Weiterleben, taugen beide nicht zur Orientierung. Der Andere hilft ihm noch einmal auf die Füße. Beckmann findet im zerstörten Hamburg das Haus, in dem seine Eltern wohnten. Dort öffnet ihm eine unbekannte Frau. Sie erzählt ihm, dass die beiden Alten sich das Leben genommen hätten. Sein Vater habe befürchtet, wegen seiner Parteinahme für die Nazis zur Verantwortung gezogen zu werden. Deswegen hätten sie das Gas angestellt. Das sei für diesen Zweck eine Verschwendung gewesen, meint die neue Bewohnerin.
 

Beckmann verzweifelt erneut. Er reflektiert die jüngsten Erlebnisse und fragt nach dem Sinn des Lebens, er schreit seine Fragen geradezu heraus.
 

 

Wolfgang Borcherts Stück ist zweifellos ein besonderes Zeugnis jener „Trümmer- und Kahlschlagliteratur“ nach 1945. Exemplarisch verleiht sie einem damals weit verbreiteten Gefühl einen literarischen Ausdruck. Und es verschweigt ebenfalls all das, was viele sich nicht eingestehen wollten. Nämlich dass dieser Krieg nicht wie ein Meteorit vom Himmel gefallen war, sondern das Ergebnis einer menschenverachtenden politischen Ideologie war. Und dass die sprichwörtliche Suppe, die von Millionen Menschen, die sich als Opfer begriffen, ausgelöffelt werden musste, allenfalls ansatzweise jenen Gerechtigkeit verschaffte, die um Gesundheit und Leben gebracht worden waren.
 

Der Regisseur Jürgen Kruse inszenierte im Jahr 2014 in den Kammerspielen des Schauspiels Frankfurt eine bemerkenswerte Interpretation von Borcherts Drama. Er orientierte sich weitgehend am Original, das er in modernen Bildern wiedergab. Er flocht keine Reflexionen über die wirklichen Opfer des Krieges ein. Doch am Ende der Aufführung, als sich der transparente Vorhang, der noch einen letzten Blick auf die Szenerie erlaubte, bereits gesenkt hatte, aber das Licht auf der Bühne noch nicht erloschen war, folgte unerwartet eine politische Quintessenz. Als Schlussakkord ertönte in einer Einspielung das Lied „Der heimliche Aufstand" von Erich Weinert und Hanns Eisler, gesungen von Ernst Busch:

 

"Dann steigt aus den Trümmern der alten Gesellschaft
die sozialistische Weltrepublik."

 

Wolfgang Borchert hat seinem Stück ein separates „Manifest“ folgen lassen:

„Wir brauchen keine Dichter mit guter Grammatik. Zu guter Grammatik fehlt uns Geduld. Wir brauchen die, die zu Baum Baum und zu Weib Weib sagen und ja und nein sagen: laut und deutlich und dreifach und ohne Konjunktion ... Über den Schornsteinen, über den Dächern: die Welt: lila! Über unseren hingeworfenen Leibern die schattigen Mulden: die blaubeschneiten Augenhöhlen der Toten im Eissturm, die violett-wütigen Schlunde der kalten Kanonen.“
 

Sehr eindrucksvoll. Aber leider nicht die volle Wahrheit.

 

Klaus Philipp Mertens