Archiv "Vom Geist der Zeit" | Literatur und Kultur

Kotz & Würg in Wahlverwandtschaft wüten durch die Bücherlandschaft

Giftige Geschenke von Amazon, Stiftung Lesen, Thalia und Hugendubel

Am Weltkindertag, dem 20. September, will der Online-Händler Amazon etwas Gutes tun. Nein, er will auch künftig keine Steuern in Deutschland zahlen. Und sich – trotz diverser Streiks seiner Mitarbeiter - auch nicht an die Tarife des Großhandels halten. Vielmehr möchte er den stationären und konzernunabhängigen Sortimentsbuchhandel aus dem Bewusstsein der Buchkäufer und Buchleser verdrängen. Indem er eine Million Exemplare einer Auswahl aus „Grimms Märchen“ samt fünf neuen Märchen zeitgenössischer Autoren verschenkt, die sein eigener Copy-Shop „Tinte & Feder“ produziert. Unterstützt wird er dabei von den Filialisten Thalia und Hugendubel. Denn zur Durchsetzung globaler Ziele benötigt man bekanntlich die Kooperation mit nationalen Oligarchen. Für den notwendigen Heiligenschein sorgt die Stiftung Lesen, dessen Stifterrat Amazon erst unlängst beigetreten war. Welch ein Zufall.
 

Allerdings: Die Stiftung Lesen gilt vielen Insidern längst nicht mehr als eine seriöse Adresse. So wurde ihr beispielsweise vor acht Jahren vorgeworfen, Werbematerial einer Bank sowie der Deutschen Bahn als Arbeitsblätter zur Leseförderung in Schulen platziert zu haben. Das Fernsehmagazin „Report Mainz“ berichtete darüber. Der Hauptgeschäftsführer der Stiftung, Jörg F. Maas, dessen berufliche Vita sich liest wie ein Rundgang durch sämtliche relevanten Lobbyorganisationen dieser Welt, bestreitet zwar, den unabhängigen Buchhandel übervorteilen zu wollen. Aber auf die Frage, warum man denn erst nach Bekanntwerden der Aktion reagiere und nicht während der Planungsphase mit Vertretern des Buchhandels Kontakt aufnahm, blieb er eine überzeugende Antwort schuldig. Der Börsenverein des deutschen Buchhandels, ebenfalls Mitglied des Stifterrats, war jedenfalls nicht eingeweiht worden und droht nun mit dem Rückzug aus der Interessensgemeinschaft.
 

Der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Lesung, Joerg Pfuhl, rät dem Buchhandel sogar zu „weniger Empörung und mehr Miteinanderreden“ und bedauert das entstandene „Missverständnis“. Das Projekt sei seit langem diskutiert worden „und von Anfang an wollten wir den stationären Buchhandel möglichst breit einbinden“. Angesichts dieser Menge an unglaubwürdigen Dementis könnte man meinen, dass für die Leitungsebene der Stiftung Lesen der Buchhandel in Deutschland im Wesentlichen aus Amazon, Thalia und Hugendubel besteht, denen gegenüber der Rest keine Rolle spielt.
 

In einem Interview mit dem „Börsenblatt des deutschen Buchhandels“ betonte Pfuhl, es sei seine Art „Dinge auszuprobieren“, mit Forschung zu begleiten und hinterher zu schauen, was gut und was vielleicht weniger gut funktioniert habe. Insbesondere kritisierte er den von ihm so genannten „Empörungsreflex“ des Buchhandels, der sich immer dann äußere, wenn Amazon im Spiel sei. Aus seiner Sicht sollte es allen Beteiligten im Buchmarkt darum gehen, „neue Leser zu finden und zu binden, und nicht darum, Amazon zu vertreiben“.
 

Die Skepsis von Experten gegenüber solch einer Art von „Leseförderung“, die buchfremde Familien gar nicht erreiche, wischt Pfuhl vom Tisch. „Warum wissen so etwas immer alle schon vorher? Lasst es uns doch einfach ausprobieren.“ Er verwies auf die Kooperation der Stiftung Lesen mit der Fast-Food-Kette McDonald’s (die zu den Sponsoren zählt!) und vorher „viel Spott und Ablehnung“ aus der Buchbranche erfahren habe. Die sogenannte „Happy-Meal-Zugabe“ habe jedoch „hervorragend funktioniert. Unsere Begleitforschung hat gezeigt, dass Eltern und ihre Kinder sich häufig tatsächlich mit den verschenkten Büchern auseinandergesetzt haben.“ Unabhängige Medienpädagogen sehen das jedoch deutlich anders. Und auch viele Kinderbuchautoren und Kinderbuchverlage melden begründete Zweifel an.

 

Joerg Pfuhl müsste eigentlich wissen, von wem und was er spricht. Schließlich ist er seit September 2016 Vorsitzender der Geschäftsführung der Verlagsgruppe Georg von Holtzbrinck, zu welcher Verlage wie Droemer Knaur, S. Fischer, Kiepenheuer & Witsch und Rowohlt gehören. Allerdings wird ihm eine wenig glückliche Hand im Umgang mit leitenden Persönlichkeiten des Unternehmens nachgesagt. Im September 2018 kündigte er der erfolgreichen Rowohlt-Geschäftsführerin Barbara Laugwitz und ersetzte sie durch den Autoren und Journalisten Florian Illies, der über keine verlegerischen Erfahrungen verfügt. Frau Laugwitz wurde sogar ein „Maulkorb“ verpasst, also eine Kontaktsperre auferlegt zu Autoren und Medien. Pfuhl bestritt das zunächst, ruderte aber zurück – nachdem eindeutige E-Mails und andere Schriftstücke vorgelegt wurden – und sprach von einem „Missverständnis“. In einer daraufhin öffentlich gemachten Protestnote vieler Autoren hieß es:
 

„Sehr geehrter Herr Pfuhl, kaum jemand von uns kannte vor dieser unglücklichen Angelegenheit Ihren Namen. Nun verbindet sich Ihr erstes Erscheinen für uns mit Ignoranz, Intransparenz und Rücksichtslosigkeit. Wir sehen nicht, wie unter diesen Bedingungen Vertrauen hergestellt werden soll.“
 

Dass es diesem Meister der Missverständnisse auch in seiner Eigenschaft als Vorstandsvorsitzender eines auch mit öffentlichen Mitteln unterstützten Vereins vor allem um Marketing zu Gunsten der Großen in der Buchhandelssparte geht, scheint eindeutig zu sein. Konkret um die Verschaffung von geschäftlichen Vorteilen zu Lasten der kleineren und mittleren Buchhandlungen, die bis heute das Bild des deutschen Sortimentsbuchhandels prägen. Letztlich aber auch zu Lasten von Tausenden von Ehrenamtlichen, die sich in Buchhandlungen, Bibliotheken und Vereinen als Vorleser engagieren, damit Kinder und Jugendliche die Kulturtechnik des verstehenden Lesens auch außerhalb von Familie und Schule vertiefen können.
 

Amazon und seinen Partnern hingegen geht es bei dieser Geschenkaktion in erster Linie um eine möglichst früh einsetzende Kundenbindung. Also bereits bei Schülern und deren Angehörigen. Und Kundenbindung bedeutet im Klartext Datenerhebung, damit die Betroffenen ein Konsumentenleben lang gelistet bleiben und ihr Verhalten wie ein offenes Buch einsehbar und kalkulierbar ist. Ob sie hinreichend Lesen oder Schreiben können, ist dann sekundär. Irgendeine geeignete Ware wird Amazon ihnen sicherlich anbieten können.
 

Die Initiative PRO LESEN e.V., die sich aus investigativen Lesern zusammensetzt (also dem Typus, den man weder in der Stiftung Lesen noch bei den Multis der Branche mag), hat Ende des Jahres 2012 maßgeblich dazu beigetragen, dass die klammheimliche Verlinkung des Online-Katalogs der Frankfurter Stadtbücherei mit den Bestellseiten von AMAZON unterbunden wurde. Ein Dienstleister für Bibliothekssoftware hatte sich die Cover-Abbildungen für nahezu sämtliche Titel, welche die Bücherei im Bestand hatte, völlig unprofessionell von Amazon besorgt (statt von Verlagen oder aus dem „Verzeichnis lieferbarer Bücher“). Der Versandhändler hatte in diesen seine Bestelladresse versteckt. Damals zeigte sich das verantwortliche Dezernat für Bildung und Frauen zunächst schlecht informiert und fachlich völlig überfordert. Erst als PRO LESEN öffentliche Aktionen innerhalb und außerhalb der Bücherei ankündigte, wurde die Verlinkung innerhalb eines Tages deaktiviert.
 

Fazit: Man kann den einseitig gelagerten Interesse von Amazon, Stiftung Lesen, Thalia und Hugendubel durch Entschlossenheit beikommen.
 

Klaus Philipp Mertens

P.S. Die Überschrift dieses Beitrags ist an Brechts Gedicht „Freiheit und Democracy – Der anachronistische Zug“ angelehnt.