Archiv "Vom Geist der Zeit" | Literatur und Kultur

Die Interessen hinter den Wörtern

Zum Unwort des Jahres 2021

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„Worte können sein wie winzige Arsendosen. Sie werden unbemerkt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu haben, und nach einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da.“ Das schrieb der Literatur- und Sprachwissenschaftler Victor Klemperer in seinem Buch „LTI - Notizbuch eines Philologen“, in dem er 1946 die Sprache des Dritten Reichs analysierte. Er tat das in der Form einer parallelen Chronologie. Auf der einen Seite die sich steigernde Verlogenheit der menschenverachtenden Diktatur, auf der anderen seine persönlichen Erfahrungen als Verfolgter des Nazi-Regimes, das ihm, dem Juden, das Lebensrecht absprach. Die von Klemperer als „Lingua Tertii Imperii“ bezeichnete NS-Sprache gilt bis heute als relativ erfolgreicher Versuch, die Deutungshoheit über sämtliche gesellschaftlichen Vorgänge zu erlangen, indem man ihr abseits der normalen Sprachentwicklung verfälschende Bedeutungen unterschob und neue, nur der Manipulation dienende, Begriffe erfand. Ein besonderes Kennzeichen war auch die Militarisierung des Alltags durch die gewollte Verwendung militärischer Fachtermini in die Umgangssprache. Denn Sprache kann, falls sie unkritisch oder bewusst verstellend verwendet wird, beschönigen und verschleiern. Und euphemistische Wortschöpfungen sind bei Ideologen aller Couleur beliebt.
 

Bis in die Gegenwart hinein haben sich Begriffe aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ (so der Titel einer zeitlich parallel zu Klemperers Buch erschienenen Artikelserie von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm Emanuel Süskind) erhalten. So z.B.Ausrichtung, echt, einmalig, Einsatz, Frauenarbeit, Kulturschaffende, Lager, leistungsmäßig, Mädel, Propaganda, querschießen, Schulung, Sektor, tragbar und untragbar.
 

In einer vermeintlich umweltbewussten Zeit werden Giftmülllager als Entsorgungsparks bezeichnet. Bei Atomkraftwerken bestünde gemäß Verlautbarungen ihrer Betreiber und Erbauer lediglich ein Restrisiko, die EU-Kommission stuft sie neuerdings sogar als nachhaltige Energiequellen ein. Ein Öltanker, der auf See zerbricht und ausläuft, breitet einen Ölteppich aus, was Assoziationen zu einem längere Zeit nicht gepflegten Wohnzimmerbelag auslösen soll. Luftangriffe auf militärische Ziele werden als chirurgische Operationen verniedlicht. Falls die Bomben und Raketen auch Nichtkombattanten töten, spricht man von Kollateralschäden. Ein angeordneter Todesschuss gegen einen Verbrecher wird finaler Rettungsschuss genannt. Wenn Marineschiffe der EU vor der Küste Libanons operieren, gilt das als robustes Mandat, aber nicht als Kampfeinsatz. In der neoliberalen Wirtschaft werden Menschen nicht mehr gekündigt, sondern freigesetzt. Im Jugoslawienkrieg zu Beginn der 1990er Jahre kam es zu ethnischen Säuberungen, also zu Völkermord. Rechtsradikale Gruppen und Parteien sprechen angesichts von Flüchtlingen, die sich nach Deutschland und Europa retten, von Überfremdung. Weil Rentner angeblich zu spät in den Ruhestand wechseln und obendrein zu lange leben, sehen die Ideologen der Marktwirtschaft das Land von einer Rentnerschwemme bedroht. Denn im Kapitalismus bestimmen die Gesetze des Marktes, das allgemeine Menschenrecht und die 19 Grundrechte der Verfassung sind nachrangig.
 

Die Jury der „Sprachkritischen Aktion“, die alljährlich das „Unwort des Jahres“ kürt, entschied sich rückblickend auf 2021 für den Ausdruck „Pushback“. Dieser beschönige einen Prozess der Abschiebung, der verhindere, dass Flüchtenden ihr Recht auf Asyl wahrnehmen könnten.
 

Das darin zum Ausdruck kommende Anliegen ist ehrenwert. Allerdings spielt dieses Unwort bislang im deutschen Sprachschatz keine Rolle; eine Mehrheit versteht es gar nicht. Vielmehr könnte man es gar dem „Denglisch“ der Bildungsfernen zuordnen.
Hingegen sollten die um sich greifenden Adnexes *in und *innen, die nach Meinung der feministischen Linguistik einer geschlechtergerechten Sprache dienen, der tiefgehenden Analyse unterzogen werden - man bräuchte nur bei Victor Klemperer nachschlagen. Denn in diesen Anhängen an die männliche Form kommen ideologische Absichten im Sinn einer angestrebten Deutungshoheit zum Vorschein. Die deutsche Sprache hat längst treffende männliche und weibliche Formen hervorgebracht. Man ist nicht grundsätzlich auf die abstrahierende Ebene des generischen Maskulinums angewiesen. Formen wie Leser und Leserinnen, Mitglieder und Mitgliederinnen, Arbeiter und Arbeiterinnen können stellvertretend für andere angeführt werden. Weibliche Anhänge, die durch Asterisk, Doppelpunkt oder Unterstrich vom vorangehenden „männlichen“ Substantiv abgetrennt werden, bedeuten sowohl einen linguistischen Rückschritt als auch ein Zurück im gesellschaftlichen Bewusstsein. Der Bildungsbürger ist erinnert an eine Bibelstelle in der Luther-Übersetzung, nämlich an Genesis 1, Verse 18 - 24: „Da sprach der Mensch: Das ist doch Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch; man wird sie Männin nennen, weil sie vom Manne genommen ist..“.
Die Sprecherin der „Sprachkritischen Aktion“, Prof. Dr. Constanze Spieß, hat das anscheinend nicht im Blick. Oder sie übergeht es konsequent. Denn sie ist eine Vertreterin der feministischen Linguistik.
 

 

Ursprünglich kreierte eine Jury der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ das Unwort des Jahres. Zum ersten Mal 1991. Doch bereits 1993 gab es keinen Konsens mehr zwischen dem Verein und den von ihm berufenen Jury-Mitgliedern. Seither urteilt die erwähnte „Sprachkritische Aktion“ die unsäglichen Worte. Dabei begann die Idee durchaus überzeugend.

 

Der erste Bann traf das damals grassierende „Ausländerfrei“. In der Begründung wurde an den NS-Begriff „Judenfrei“ erinnert. Ein positiver Begriff wie „frei“ werde verbunden mit einer antisemitischen Verunglimpfung. Das Schicksal jener, von der die Gesellschaft „befreit“ wurde, vorrangig Juden, aber auch andere, deren Leben als „unwert“ galt, wurde mit „Endlösung“, „Sonderbehandlung“ oder „Euthanasie“ verschleiert. Über dem Eingang von Konzentrationslagern, die häufig Vernichtungslager waren, stand „Arbeit macht frei“.
Abstrakte Kunst galt als „entartet“, die Musik von schwarzen US-Amerikanern als „Negermusik“. Juden wurden auch mit Parasiten gleichgesetzt, die zu Lasten anderer lebten.

 

Die 1950er und 1960er Jahre wurden in der Bundesrepublik beherrscht durch antikommunistische Propaganda. Schlagworte wie „Gefahr aus dem Osten“ oder „Rote Horden“ entsprachen im Kern der NS-Propaganda.

 

Erst die 68er-Bewegung, die überwiegend von Studenten getragen wurde, entlarvte synthetische Sprachkonstruktionen als Herrschaftsinstrumente. Dabei nahm sie Anleihen bei der marxistischen Ökonomie und Philosophie. Marktbeherrschende Unternehmen, deren Wert an Produktions- und Finanzmitteln den Arbeitswert ihrer sämtlichen Beschäftigten weit übertraf, wurden als Ausbeuter etikettiert. Aufforderung zum Konsum jenseits einer gehobenen Bedürfnisbefriedigung galt als Konsumterror. Die Maßstäbe, an denen die kapitalistische Wirtschaftswelt gemessen wurde, bedeuteten nach dem Urteil ihrer Kritiker eine Entfremdung des Menschen und erzeugten ein falsches Bewusstsein. Ein Bewusstsein, das gegen die elementaren Interessen der Lohnabhängigen gerichtet war. Zwar nahmen manche Termini den Charakter von Schlagworten an, vor allem dann, wenn sie mit soziologischen Fachbegriffen vermengt waren.

Dennoch gab es einen gravierenden Unterschied zur ideologischen Instrumentalisierung von Sprache, wie sie von totalitären Regimen angewendet wird. Denn die überkommene Sprache wurde hinterfragt, indem Wörter und Begriffe quasi seziert und auf ihre tatsächlichen Inhalte hin befragt wurden. Dadurch wurde auch die allgemeine Sprachsensibilität gefördert, welche die Interessen, die sich hinter Wörtern verbergen, offenlegt. Das führte zwangsläufig zu einer Neubewertung überkommener Begriffe. Umwelt, Demokratie, Emanzipation, Mündigkeit oder Selbstbestimmung, die lange als „gefühlssatte Kolossalbegriffe“ galten (ein Ausdruck des Sprachkritikers Dieter E. Zimmer) verloren ihren Charakter als Sprachhülsen und wurden mit Inhalten belebt.

 

Allerdings entwickelte sich auch mit einigen Jahren Verspätung eine Gegenbewegung. Im konservativen Lager, für das CDU und CSU, aber auch FDP standen und stehen, wurden Worte, die Sekundärtugenden beschreiben, zu programmatischen Aussagen hochstilisiert. Etwa Auftrag, Pflicht, Verantwortung übernehmen, Chancen, Optimismus, entschlossenes Handeln und Tatkraft. Das klang und klingt nach dem Kulturalmanach des deutschen Spießbürgers und so ist es bis heute geblieben.
 

Klaus Philipp Mertens