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Vaterland Europa oder Europäische Wirtschafts-Gemeinschaft?

Die EZB operiert auf rechtlich ungesichertem Terrain. Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

(c) Deutschlandfunk

Die Europäische Union hat eine Grundsatzfrage nicht geklärt – vermutlich, weil sie sie nicht klären will oder kann. Nämlich jene, ob sie eine Wirtschaftsgemeinschaft (EWG?!) oder eine politische Union sein will. Die EU-Verträge einschließlich jener, welche die Euro-Zone betreffen, tendieren zu einem Nebeneinander von EU-Recht und nationalem Recht, was staatsrechtliche Probleme aufwirft. Über diese Grauzone täuscht auch nicht die gemeinsame Strukturpolitik hinweg.
Beispielsweise die allgemeine Verankerung von Bürgerrechten, die Regulierung der Daseinsvorsorge, eine erweiterte Freizügigkeit, ein fairer wirtschaftlicher Wettbewerb oder die Angleichung der Finanzsysteme. Die bislang ergangenen Beschlüsse des EU-Parlaments, die grundsätzlich in nationales Recht überführt werden müssen, entsprechen im Wesentlichen den Verfassungsgrundsätzen der Mitgliedstaaten, die nach wie vor gültig sind. Denn die EU ist immer noch ein „Europa der Vaterländer“ und kein „Vaterland Europa“.

Ein immer noch ungelöstes juristisches Problem sind die Aufgaben und Pflichten der Europäischen Zentralbank. Denn sie kollidieren in der Bundesrepublik (und nicht nur dort) in wichtigen Punkten mit den Rechten des Parlaments. Als Hüterin der Geldwertstabilität ist die EZB zwar unabhängig, aber sie darf keine völlig eigenständige Geld- und Wirtschaftspolitik betreiben. Vor allem ist ihr die direkte oder indirekte Finanzierung anderer EU-Staaten untersagt, weil das hierzulande in die Rechte der Verfassungsorgane Legislative und Exekutive eingriffe. Letztere sind dem Allgemeinwohl verpflichtet, was u.a. in der Sozialbindung des Eigentums deutlich wird.

Seit dem Beginn der Ära Draghi (November 2011) muss sich die EZB vorwerfen lassen, Spekulanten in der EU zu fördern und Normalbürger (Sparer, Wohnungsmieter) sowie systemrelevante Pensionsfonds und Versicherungen faktisch zu enteignen. Bereits die internationale Finanzkrise von 2008/2009 offenbarte die Verstrickung der Realwirtschaft mit den Machenschaften des Handels wertloser Finanzderivate und überbewerteter Immobilien. Im Hintergrund operierten Großbanken wie Goldman Sachs, die bis heute an ihren Geschäftsmodellen festhalten.
In Italien, Griechenland und Spanien kamen finanziellen Verwerfungen hinzu, die ihre Ursachen im Steuerverzicht gegenüber Wohlhabenden und großen Unternehmen und in der Inaktivität gegenüber Spekulanten, vor allem denen auf dem Immobiliensektor, haben. Zu diesem Kreis der unsolidarischen Europäer zählen bzw. zählten sehr lange auch Luxemburg, die Niederlande und Irland mit ihren Dumpingsteuersätzen für internationale Multis.

Der Ankauf von Staatspapieren durch die EZB folgt erkennbar einer Blaupause, die ganz offensichtlich dem Kalkül von Mario Draghi entspricht, dem EZB-Präsidenten, der Ende Oktober 2019 aus dem Amt schied. Bereits bei seiner Ernennung befürchteten Insider einen möglichen Interessenskonflikt wegen seiner vormaligen Tätigkeiten. Diese betrafen sowohl seine leitende Funktion bei Goldman Sachs als auch seine Zeit als Gouverneur der italienischen Zentralbank. In dieser Eigenschaft tolerierte Draghi äußerst riskante Geschäfte der angeschlagenen Bank „Monte dei Paschi di Siena (MPS )“. Noch im Oktober 2011, kurz vor seinem Wechsel zur EZB, genehmigte er MPS einen durch Wertpapiere gesicherten Kredit in Höhe von zwei Milliarden Euro, ohne die Öffentlichkeit und das italienische Parlament darüber zu informieren – wozu er verpflichtet gewesen wäre. Durch diese geheime Rettungsaktion landete Wertpapierschrott (u.a. auch Anlagen der Mafia) bei der nationalen Notenbank. Die Inhaber der Papiere gelangten auf diese Weise in den Genuss von Staatsanleihen, deren Zins- und Schuldendienst bis heute vom Steuerzahler getragen wird.
Draghi legte damit den Grundstein für ein europäisches Schattenbankensystem unter Führung der nationalen Notenbanken. Ein System, das hauptsächlich dazu geschaffen wurde, Geschäftsbanken und ihre Eigentümer auf Kosten der Steuerzahler vor Pleite und Verstaatlichung zu schützen. Der Anleihenkauf der EZB entspricht vollständig dieser Geschäftspolitik.

De facto tragen die Sparbücher und Alterssicherungseinlagen von Bürgern mit kleinen und mittleren Einkommen wesentlich dazu bei, dass überschuldete Staaten, die ihre Wohlhabenden steuerlich schonen, über den Umweg von EZB-Anleihekäufen saniert werden. Es widerspricht auch der gemeinwirtschaftlichen Aufgabe der EZB, wenn das bei Geschäftsbanken und Sparkassen deponierte Geld der Sparer zu Minimalzinsen verliehen und damit der Bau von Wohnungen und Häusern finanziert wird, die sich exakt diese Sparer nicht (mehr) leisten können. So notwendig eine gemeinsame europäische Finanzpolitik ist, so verwerflich ist deren Ausrichtung an den Interessen relativ weniger Kapitalgesellschaften und Hedgefonds.

Während der Europäische Gerichtshof in dieser Frage wegen der unzureichenden EU-Verträge lediglich den Status quo bestätigen kann, ist das Bundesverfassungsgericht als dritte Säule der demokratischen Gewaltenteilung den eindeutigen Bestimmungen des deutschen Rechts, insbesondere denen des Grundgesetzes, verpflichtet. Seine Entscheidung gegen den ungeprüften Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB war zwingend notwendig. Warum diese Zusammenhänge der deutsche EU-Parlamentarierin Katharina Barley, ehemals Justizministerin in Berlin, nicht klar sind, ist nur mit vermuteter juristischer und politischer Unkenntnis erklärbar.

 

KPM