Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Und erlöse uns von den Erlösern. Betrachtungen zum Advent

I Das Weltgericht – die Fresken von Landasberg

(c) MRG

Das weißgetünchte Kirchlein mit dem etwas verrutschten Zwiebelturm sieht man schon von Weitem, wenn man der Straße von Straubing nach Bad Kötzting im Bayerischen Wald folgt. Ein besonders schöner Blick auf den Weiler Landasberg und die vom Menachtal aufsteigenden Berghänge eröffnet sich vom alten Kirchhof von Haselbach. Das Dorf mit der dem Heiligen Jakob geweihten Kirche und die Kapelle mit der Darstellung des Totentanzes aus dem 17. Jahrhundert sind ein schöner Ausgangspunkt für den Wanderer, dem es die Landschaft des Vorwaldes mit den verstreuten Bauernhöfen angetan hat. Überraschende Entdeckungen eröffnen sich dem, der nicht zielgerichtet durch die Landschaft hastet: Wegkreuze und Marterl als Erinnerung an schwere Zeiten laden ein zum Verweilen und Gedenken. An scheinbar gottvergessenen Einöden findet er Höfe mit eigenen Kirchlein und Kapellen, Kulturdenkmäler, deren Wert man lange unterschätzt hat. So eine ist die Kirche St. Johannes der Täufer auf dem Landasberg.

Der Besucher, der Einkehr und Sammlung sucht, geht durch eine unscheinbare Tür aus behauenen Granitquadern. Heute wie damals vor 600 Jahren, als ein Mann in noch jüngeren Jahren, in der üblichen Tracht der Pilger, über die Schwelle des Kirchleins geschritten sein mag, die Kapuze in Andacht zurückschlug und sich umfangen ließ von der Mystik des halbdunklen Raumes.

Er versucht sich zu sammeln und noch einmal die Bilder in sich vorüberziehen lassen; das, was in diesen letzten Tagen geschehen war, bevor er die Reichsstadt Regensburg Hals über Kopf verlassen musste. Er will sich prüfen im Angesicht des Gekreuzigten, ob er recht gehandelt hatte. Doch er vermag sich nicht zu versenken im Anblick des schlichten romanischen Kreuzes über dem Altar, unweigerlich wird sein Blick hingezogen zu den Malereien an der Wand des Kirchenschiffs zu seiner Linken. Die Farben sind überwiegend in erdnahen Tönen gehalten, sie lassen aber die wenigen Abbildungen, die in leuchtendem Grün, Rot oder Golden-Gelb gehalten sind, umso stärker hervortreten. Kein Jahr dürfte vergangen sein, dass das Fresko angefertigt wurde. Überwältigend schön das Panorama aus Menschen, Pflanzen, Himmelswolken und geflügelten Wesen. Ein überdimensional dargestelltes Kruzifix trennt die Szene deutlich in einen rechten und linken Teil. Etwas bedrückt den Fremden an dem Bild, er kann sich zunächst nicht erklären, was ihn beunruhigt.

Er sucht einen Halt zu finden, einen Punkt des Anfangs in der überbordenden Erzählung, die der Künstler in schönsten Farben an der Wand des Kirchenschiffs entfaltet hat. Schließlich verfängt sich seine Aufmerksamkeit an der Darstellung der Paradiesszene: Adam und Eva im Augenblick der Sünde.

Sie stehen beide unter einem fein gezogenen Baum mit reifen Früchten, Eva, dargestellt mit ausgeprägt weiblichen körperlichen Rundungen, Adam zugeneigt. Sie reicht ihm mit der Rechten einen Apfel. Mit der Linken, hinter ihrem Rücken dem Mann verbergend, hält sie eine Teufelsmaske. Oder, es ist gar keine Maske. Wohl eher ein Kopf, der Kopf eines bärtigen Mannes, die Schädeldecke zweimal gespalten, wie von zwei Schwerthieben. Und die Finger des nackten Weibes krallen sich in die Kerben des losgetrennten Hauptes.

 Der Fremde erschrickt. Ihm ist plötzlich als erkenne er in dem Getöteten und vom Rumpf Getrennten die Gesichtszüge seines Lehrers und Freundes, Kaplan Grünsleder. Für ihn hatte er die Feder geführt, für ihn, der die Traktate und Predigten des berühmten Jan Hus aus Prag ins Deutsche übersetzt hat. Wie Dürstende hatten sie doch die Botschaft aufgenommen, wie leidenschaftlich wurden die Thesen des Böhmen in der Fakultät diskutiert! Gegen die persönliche Bereicherung der Bischöfe, die Anmaßungen der Priester, den Ablasshandel. Alle seien Brüder und Schwestern im Herrn, ohne Standesunterschiede. „Niemand ist Prälat und Herr, wenn er sich im Zustand der Sünde befindet“, so lasen sie in den „Prager Predigten“. Bis Ulrich Grünsleder verhaftet wurde. Und jedem seiner Schüler abverlangt wurde, jedermann zu denunzieren, der sich zu Hus´ Lehre bekannte. In dem Jahr der Haft Grünleders hatte er, Heinrich, die Verbindungen nach Prag aufrechterhalten können und die ersehnten Nachrichten unter Freunden verteilt. Und er war dabei, als sie ihn, seinen Lehrer und Freund, zum Scheiterhaufen führten,  festzurrten und das Reisig mit einer Fackel entzündeten. Der letzte Blick des Unglücklichen galt ihm, er wusste es, ihm, Heinrich, der sich vermummt in der schweigenden Menge verbarg, die sich am Domplatz nach Sonnenuntergang zu dem Spektakel versammelt hatte. Jetzt, da der Urteilsspruch über den Vohenstraußer vollzogen war, gab es kein Verweilen mehr in der Reichshauptstadt, an jeder Ecke lauerte dort der Tod.

Doch Eva: Warum will sie Adam nochmals verführen? Was bedeutet dieser wiederholte Versuch, der zweite Apfel, nachdem die Ursünde der Erkenntnis schon geschehen und Adam, bereits im Stand der Schuld, Scham empfindet in seiner Nacktheit? Eva, offensichtlich die Inkarnation des Bösen, die Parteigängerin des Ketzers, dessen entstelltes Haupt sie Adam verheimlichen will, hinter ihrem Rücken verbirgt.  Will sie ihn täuschen? Zum zweiten Mal?

Adam hingegen weicht mit dem Oberkörper zurück, in der Linken hält er schon den einen Apfel, dem der Erkenntnis, mit der Rechten verbirgt er mit Hilfe eines Kräuterbüschels sein Geschlecht. Wird er den zweiten Apfel annehmen, zum zweiten Mal fallen, in Unkenntnis eines weiteren Verhängnisses, eines noch größeren? Sollte Erkenntnis, Erkenntnis der Wahrheit, ein Verbrechen sein? In was besteht dann dieses zweite Verhängnis, das über die Menschheit kommen sollte? In der zweiten Ursünde, der Häresie, in der Abkehr von der rechtmäßigen Kirche.

 

Verwirrt, auf der Suche nach einer Antwort, wandert das Auge des Geflüchteten weiter. Ein roter übergroß dargestellter Dolch. Die Hand, die den Griff umfasst, stößt ein auf das Haupt einer Frau, die auf einem Esel reitet und mit der linken Hand den Kopf eines Ziegenbocks mit sich führt. Eine Königin wohl, doch ihre Krone fällt unter dem Angriff zu Boden, die Fahnenstange in ihrer rechten Hand ist gebrochen, die Augenbinde, die sie tragen sollte, verrutscht. So sie ist nicht mehr blind, unschuldig, sie bedarf nicht mehr der Nachsicht, der Gnade des Erlösers. Es ist eine Synagoge, eine Frau als Sinnbild des Alten Testaments, des Judentums. Die Hand mit dem Mordwerkzeug ist geführt von einem mächtigen Arm, der als Verlängerung des rechten Querbalkens des Kreuzes in der Mitte des Bildes erscheint. Dagegen führt die Hand, die aus dem unteren Kreuzesstamm erwächst, einen Hammer, der eine Stadt mit Befestigungsmauern und Türmen, wie sie aus Darstellungen des Tempels in Jerusalem bekannt sind, zertrümmert. Aus dem Tor dieser Stadt ragt ein Speer. Er sollte eine Bedrohung in Erinnerung rufen:  die gegen die Christenheit gerichtete, noch nicht gebrochene Speerspitze der Synagoge. Die Antwort und die Botschaft des geköpften Sündenbocks lautet: Vertreibung und Vernichtung .

Der Dolch, der Hammer, Werkzeuge des Mordes und der Zerstörung, die Hände und die Arme, die sie führen, fährt es Heinrich durch den Kopf, aus dem gleichen Holz, wie das Kreuz der Erlösung, Symbol der der Vergebung und Barmherzigkeit, des Baums des Lebens? Nein, das konnte nicht sein Glauben sein, das konnte nicht die Botschaft des Gekreuzigten sein. Wo aber ist das Heil in dieser Welt, die Erlösung?

Die Liebe Gottes offenbart sich zu dessen Rechten. Der Mensch Jesu ist tot, aus seinem Herzen fließt Blut und Wasser (Joh.19-34). Doch das Holz lebt. Wie der rechte Balken - aus der Sicht des Betrachters – so verlängert sich auch der linke Querbalken in einen mächtigen Arm.  Die Hand weist mit zwei Finger auf das Wunder der Eucharistie: Aus der Herzenswunde Christi tritt ein Blutstrahl, der von einem großen Kelch aufgefangen wird. Das könnte unser Kelch sein, durchfährt es den Flüchtenden, der rote Kelch als Zeichen unserer, der hussitischen Bruderschaft. Doch der Kelch hier ist aus Gold, es ist Ecclesia, die eine heilige und katholische Kirche, die den Kelch hochhält. Das überaus prächtige Kleid der Frau hat die grüne Farbe des lebendigen Kreuzes und fällt in hunderten Faltenwürfen über das Tier, auf dem sie kniet. Ein Tetramorph, ein Mischwesen, gebildet aus den Mensch-Tier-Sinnbildern der vier Evangelisten. Ecclesia trägt eine Königskrone, umgeben von einem goldenen Schein. Ihre Augen sind auf den Erlöser gerichtet, ernst und gefasst, eher fragend. Es ist, als hätte der Künstler nur sie darstellen wollen, alles andere als Beiwerk degradierend, als Pflichtprogramm des Auftraggebers.

Entsprechend dem Baum der Erkenntnis auf der linken Seite des Gekreuzigten steht nun zu seiner rechten Seite der „Baum des Lebens“. Statt verführerischer Früchte trägt er Hostien, offenbar gedacht für das wartende Volk. Es hat Zuflucht gefunden unter dem Mantel einer Frau, die sich ihm, dem Volk zuwendet und tröstet - aber zugleich lehrend mit der rechten Hand auf den Gekreuzigten weist: Im Kelch ist leibhaftig sein Blut; die Hostie, das ist wahrhaftig sein Leib. Sie trägt keine Krone, doch ihr goldener Heiligenschein steht unter der Krone des Hostienbaumes, er weist sie aus als die Mutter des Gekreuzigten.

Der fremde Besucher versteht die Botschaft. Wein und Hostie sind nach der Wandlung leibhaftig und gegenständlich Blut und Leib Jesu Christi. Den Wein jedoch trinken nur die Priester der Kirche. Seine Brüder dagegen feiern das Abendmahl unter beiden Gestalten, ohne Unterschied von Herr und Knecht, Pfaffen und gläubigem Volk, alle essen vom Brot und trinken aus dem Kelch.  „Dies ist mein Kelch, der für alle vergossen wird“, das waren doch die Worte Jesu, als er mit seinen Getreuen das letzte Mal am Tisch zusammensaß. Der Kelch, der Rote Kelch, unser Symbol für die Gleichheit und die Freiheit aller Christenmenschen.

Heinrich zieht sich die Kapuze über den Kopf. Nein, nicht auf Erlösung und Befreiung ist diese Kirche gegründet, sondern auf Gewalt und Unterdrückung. Nicht den Gott der Liebe predigen sie, sondern den Gott der Rache. Barmherzigkeit kann er von jenen, die das Kreuz auf ihre Fahnen geheftet haben, nicht erhoffen. Es ist noch frisch, die Farbe dieses Wandbildes, kaum getrocknet. Er hat keine Freunde hier, keine Barmherzigkeit kann er erwarten, er ist noch nicht gerettet.

Wohl mit Wehmut dachte der Flüchtling an seine Mutter, die er zurücklassen musste, mit Schmerz an seine Geliebte, die ihm zur Seite stand und vielleicht für immer verloren hat. Doch eine ebenso große Sehnsucht drängte ihn, unter seinen Brüdern zu sein. Unter seinesgleichen, die ihn verstanden, von denen er keine Angst zu haben brauchte. Er wollte unter ihnen sein, unter den 40 000, die sich auf dem heiligen Berg Tabor versammelt hatten.
Morgen würde er, so Gott will, bei Taus die Grenze überschreiten.

 

© Ernst Hilmer