Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Putins Krieg der verbrannten Erde

Ein Resümee nach zwei Jahren

© Bundeszentrale für politische Bildung

Wenn ich meine aktiven Jahre in der seinerzeitigen Friedensbewegung (1966 bis 1987) vergleiche mit der aktuellen Debatte über den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine, habe ich den Eindruck, dass heute allzu viele, die den Frieden beschwören, das kritische Bewusstsein, das die 68er auszeichnete, entweder verloren oder nie besessen haben. Hiermit meine ich vor allem den Unterschied zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, wie ihn der Soziologe Max Weber formulierte. Eine Gesinnung, die nicht reflektiert, sondern im Naiven verharrt, ist so wie die Gebete und Fürbitten in den christlichen Kirchen, auf die selten etwas Konkretes folgt. Man wärmt sich an seinem persönlichen Wohlgefühl und sieht dem Elend der Mitmenschen zwar empört, aber tatenlos zu. Und häufig versuchen bestimmte Kreise, daraus politisches Kapital zu eigenem Nutzen zu schlagen (AfD, BSW).
 

In Anlehnung an den Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein (Tractatus logico-philosophicus) unternehme ich den Versuch, die Realitäten des Kriegs gegen die Ukraine in logischer Aufeinanderfolge zu beschreiben:
 

Da nach Wittgenstein die Welt alles ist, was der Fall ist, ergo die Gesamtheit der Tatsachen, gilt das auch uneingeschränkt für historische und aktuelle politische Vorgänge. Auch beim Ukraine-Krieg ist davon auszugehen, dass er durch die Gesamtheit aller Tatsachen bestimmt ist und nicht nur durch einzelne, die je nach politischer Position herausgestellt oder verschwiegen werden. Tatsachen zeichnen sich durch ihr reales Vorhandensein, also durch objektive Sachverhalte, aus und nicht durch Mutmaßungen und/oder Wünsche.
 

Meine erste Tatsachenbehauptung lautet: Die Russische Föderation, die von dem Diktator Wladimir Putin und dessen Kamarilla regiert wird, hat nach der Besetzung ostukrainischen Gebiets (Donbass) und der Annektierung der Krim im Jahr 2014 trotz intensiver internationaler Verhandlungen über einen künftigen Status dieser Regionen am 24. Februar 2022 die autonome und friedensbereite Ukraine angegriffen. Die kriegerischen Handlungen beschränken sich nicht auf militärische Ziele, sondern richten sich ebenfalls und ständig zunehmend gegen zivile Einrichtungen. Letztere Aktionen gelten nach den Kategorien der UN als Kriegsverbrechen.
 

Tatsache Nr. 2: Die Russische Föderation setzt auf einen Vernichtungskrieg, der Ähnlichkeiten aufweist mit dem Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion, mithin auf einen totalen Krieg, der unter dem Schlagwort „verbrannte Erde“ in die Geschichte einging. Der russischen Führung geht es nachweislich eigener öffentlicher Aussagen um die Ausdehnung des eigenen Territoriums auf das Gebiet der Ukraine, mindestens um die Installierung einer Marionettenregierung. Auf die Lebensinteressen der ukrainischen Bevölkerung wird dabei keine Rücksicht genommen. Raketen auf Wohnhäuser, Schulen, Krankenhäuser und Kulturstätten beweisen das tagtäglich.
 

Tatsache Nr. 3: Die Russische Föderation würde nach bisherigen Erfahrungen (Tschetschenien, Syrien, Georgien, Moldawien) auf eine Unterwerfung der Ukraine nicht mit der Schonung der Menschen, der Infrastruktur und der demokratisch legitimierten politischen Führer reagieren. Vor allem Letztere werden als Nazis diskreditiert, die nicht mit Nachsicht zu rechnen hätten. Nicht weil sie angeblich Faschisten sind, sondern weil sie als politische Feinde gelten (das Beispiel von Alexej Nawalny steht hierfür explizit). Damit besteht für die Ukraine seit dem ersten Tag des Angriffs eine Notwehrsituation.
 

Tatsache Nr. 4: Die Ukraine wird aus eigner Kraft auf Dauer militärisch nicht gegen die hochgerüstete Russische Föderation bestehen können. Sie ist auf die Unterstützung demokratischer Staaten angewiesen. Insbesondere auf eine solche durch die USA, die EU, auf Großbritannien, Kanada und Australien. Eine Verweigerung der Unterstützung liefe für die Ukraine auf eine „Endlösung“ im Sinn der Wannsee-Konferenz und für den Westen auf die Preisgabe eigener Werte und Interessen hinaus. Negative Folgen könnten das weitere Erstarken rechter und nationalistischer Parteien in Westeuropa und den USA sein.
 

Tatsache Nr. 5: Die Russische Föderation wird nicht über die Einstellung der Kampfhandlungen und gegebenenfalls Rückzüge verhandeln, solange sie sich militärische Vorteile ausrechnet. Aber auch die ukrainische Führung wird nicht zu Verhandlungen bereit sein können, falls ein Diktatfrieden nach dem negativen Vorbild von Versailles droht, dessen Bedingungen das Leiden der Bevölkerung nicht rechtfertigen würde. Denn die russische Aggression hat in der Ukraine eine Todfeindschaft gegenüber dem Nachbarland hervorgerufen.
 

Tatsache Nr. 6: Der russische Krieg gegen die Ukraine ist ein Entweder-oder-Kampf. Ein Sieg der gerechten Sache einschließlich des Überlebens der geschundenen Ukrainer wird für die Ukraine und ihre Verbündeten das vorrangige Ziel sein müssen. Die Ereignisse im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs belegen, dass mit destruktiven politischen Systemen kein Verhandeln im Sinn von Güter- und Vorteilsabwägungen möglich ist. Ein Zuwarten würde dem Putin-Regime das Handeln überlassen, anstatt dessen Handlungen an sämtlichen Fronten zu unterbinden. Die militärische Gegenwehr der Ukraine wird zwangsläufig über die Sicherung der territorialen Integrität hinausgehen und die Ausschaltung von Putins Machtzentrum planen müssen. Beides ist nur durch einen Kampf im digitalen Netz, aber auch durch Jagdflugzeuge, Bomber, Marschflugkörper und Raketen möglich. Völkerrechtlich wäre ein Angriff auf den Kreml eine zulässige Verteidigungsstrategie. Die Anti-Hitler-Koalition hat sich bekanntlich nicht damit begnügt, Wehrmacht und SS aus den besetzten Ländern zu vertreiben. Sie hat die industriellen Zentren des Dritten Reichs und schließlich dessen Berliner Zentrale in Schutt und Asche bombardiert. Es musste ausgeschlossen werden, dass der nationalsozialistische Schoß weiter Früchte hervorbringen konnte.
 

Nicht beweisen lässt sich, dass ein Sieg der Ukraine ein Warnsignal an China und die islamistischen Terrorstaaten (z.B. den Iran) sein könnte. Aber es spricht einiges dafür. Und es ist nicht auszuschließen, dass sich Donald Trumps Begehrlichkeiten auf das Präsidentenamt durch Putins Fall erledigen würden.

 

Klaus Philipp Mertens