Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Putin die eigene Melodie vorspielen

Adäquate Antworten auf Attentate, Kriegsverbrechen und Imperialismus

Befreiung à la Putin (c) mrg

Ukrainische Flagge mit Friedenssymbol

Er wird nicht aufgeben und gegen alle Moral und Vernunft seine persönlichen Herrschaftsansprüche durchsetzen wollen.
 

Das hat er seit 1999 immer getan. Etwa im Zweiten Tschetschenienkrieg, als er die Stadt Grosny zerschießen ließ. 2003 ordnete er die Vergiftung des Journalisten Juri Schtschekotschichin an. 2004 wurde Anna Politkowskaja, ebenfalls Journalistin bei der Nowaja Gaseta, durch den Inlandsgeheimdienst im Flugzeug mit einer Tasse Tee vergiftet. Sie überlebte den Anschlag, wurde aber zwei Jahre später vor ihrer Wohnungstür in Moskau erschossen. Der ehemalige russische Agent Alexander Litwinenko starb 2006 in London an den Folgen einer Polonium-Vergiftung. Es ist auch davon auszugehen, dass der Dioxin-Anschlag von 2004 auf den reformorientierten damaligen Premierminister der Ukraine, Wiktor Juschtschenko, ebenfalls den Vernichtungsaktionen gegen Oppositionelle zuzurechnen ist.
 

Im Jahr 2014 folgte die Annexion der Krim, ein völkerrechtswidriger Akt. Und parallel dazu Abspaltungen im Donbass. Die Separatisten waren und sind Kriminelle, die im Auftrag des Kremls die Gebiete okkupierten. Durch sein Eingreifen im syrischen Bürgerkrieg 2015 versuchte Putin, sich strategische Ausgangspositionen im Nahen und Mittleren Osten zu verschaffen. Mit seinen Luftangriffen zerstörte er weite Teile der Infrastruktur des Landes, Kraftwerke, die Strom- und Wasserversorgung, Krankenhäuser. Städte wie Aleppo wurden umzingelt, von der Außenwelt abgeschnitten, die Bevölkerung dem Hungertod ausgeliefert.
 

Der Künstler und Politaktivist Pjotr Wersilow ("Pussy Riot“) rannte beim Finale der Fußball-Weltmeisterschaft 2018 in Moskau auf das Spielfeld, um auf die Polizeigewalt im Land aufmerksam zu machen. Kurz nach der Gerichtsverhandlung im September 2020 wurde er mit Vergiftungserscheinungen in ein Moskauer Krankenhaus eingeliefert. Auf Wunsch von Freunden konnte er nach Berlin ausgeflogen und dort in der Charité weiter behandelt werden. Der russische Ex-Agent Sergej Skripal und seine Tochter Julia überlebten 2018 einen Anschlag mit dem Nervengift Nowitschok, das ihnen Recherchen zufolge Agenten des russischen Militärgeheimdienstes GRU im britischen Salisbury auf die Türklinke schmierten. Im Frühjahr 2019 wurde gegen den Dichter, Satiriker und scharfzüngigen Kritiker Wladimir Putins, Dmitrij Bykow, ein Giftattentat verübt. Der Künstler war unterwegs auf einer Lesereise in Sibirien, als ihm im Flugzeug schlecht wurde. Anschließend lag er fünf Tage im Koma. Im August 2020 gab es einen ähnlichen Anschlag auf den russischen Oppositionellen Aleksej Nawalny. Seine Behandlung im sibirischen Omsk weckte Mutmaßungen über eine bewusst falsche Behandlung. Auf Druck von Angehörigen und politischen Freunden wurde er nach Berlin geflogen und in der Charité behandelt. Nach seiner Genesung und der Rückkehr nach Russland Im Januar 2021 wurde er festgenommen und anschließend zu einer dreieinhalbjährigen Arbeitslagerhaft verurteilt.
 

Am 24. Februar 2022 überfielen Putins Truppen die Ukraine. Ihr rücksichtsloses Vorgehen, insbesondere gegen die Zivilbevölkerung, erinnert an die Beschießung Grosnys.
 

Putins Krieg sei der Ein-Mann-Krieg eines Diktators, der in seiner eigenen Welt lebe. „Nichts davon ist logisch oder rational kalkuliert. Doch es ist im Rahmen dessen, wie der Verstand eines Diktators funktioniert." So die Politologin Nina Chruschtschowa, die Urenkelin von Nikita Chruschtschow. Der war von 1953 bis 1964 Erster Sekretär der KPdSU und damit der damals mächtigste Politiker der Sowjetunion. Chruschtschowa hat Putins politischen Weg von ihrer Wahlheimat USA aus genau verfolgt.
 

Putin sei ein einsamer Autokrat.„Da ist kein politischer Verstand mehr, kein realistischer Verstand mehr. Er lebt in einer erfundenen Realität, in der sich ihm jeder unterwerfen muss, anstatt realistisch zu reagieren." Putin wolle möglicherweise die NATO bestrafen, indem er die militärische Infrastruktur der Ukraine zerstört. Vielleicht wolle er eine Marionettenregierung in Kiew. Doch hinter seinem Feldzug stehe ein weniger pragmatisches, aber sehr alarmierendes Ziel: „Er will das Reich von Putin dem Großen errichten."
Putin hänge an der Vision des russischen Schriftstellers Alexander Solschenizyn, den er sehr verehre, mutmaßt Frau Chruschtschowa. „Es ist diese Vision von Alexander Solschenizyn, dass alle slawischen Länder sich vereinigen: Er hat Belarus, er holt sich die Ukraine und dann gibt es die potenzielle Revolution in Kasachstan." Und weiter: „Er hat panische Angst vor dem Tod - so wie Stalin in seinen späten Jahren. Er ist paranoid. Es scheint, als habe Putin dieses Endstadium eines Diktators erreicht, der in einem komplett anderen Universum lebt. Eines, das wir uns fast nicht vorstellen können."
 

Auch die Idee, dass die russische Bevölkerung einen Umsturz herbeiführen könnte, sieht sie als Illusion der westlichen Welt. Nach - wohl bemerkt staatlichen - Umfragen sollen inzwischen mehr als 70 Prozent der Russen hinter diesem Krieg stehen (der allerdings offiziell keiner ist und deswegen nicht als ein solcher bezeichnet werden darf). Doch auch unabhängige Quellen bestätigen diese Tendenz: Viele Russen empfänden es als Kränkung, dass ihr Land von der ganzen Welt geächtet werde. „Sie schließen sie von allem aus: Wettbewerbe, Fußball, das Bolschoi-Ballett, Sänger, Künstler, alles." Zusammen mit den anderen Sanktionen gebe das der Mehrheit das Gefühl: Sie zerstören ganz Russland. „Und sollte ein Teil der Bevölkerung sich gegen Putin erheben - das wäre blutig."
 

Auf die Frage nach einer realisierbaren Lösung äußerte Nina Chruschtschowa gegenüber der ARD: Die Ukraine müsse sich klar darüber werden, wie viel sie bereit wäre, an Russland abzutreten. Putin gehe es um die Krim und die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Seine Hauptfragen seien diese: Wollt ihr einen noch totaleren Krieg? Oder gebt Ihr mir, was ich will? Wie viel würde die Ukraine geben, um eine militärisch schwierige, gar aussichtslose Lage zu beenden? Würde sie diese Gebiete, die ohnehin für sie verloren scheinen, für einen Frieden abtreten?
 

Solchen theoretischen Erwägungen stehen jedoch andere, allem Anschein nach realistischere Prognosen für Russlands (ungewisse) Zukunft entgegen. Denn Putins imperialistische und antidemokratische Politik hat den militärischen Sektor des Landes zu Lasten einer nachhaltigen Wirtschaft, einer ökologischen Entwicklung und einer sozialen Daseinsvorsorge befördert. Während fast überall auf der Welt regenerierbare Energieträger erforscht und manche bereits funktionsfähig sind und verwendet werden, setzt Russland auf Erdgas, Erdöl und Steinkohle, die in zwei bis drei Jahrzehnten endgültig Vergangenheit sein werden. Hinzu kommt, dass moderne, hochtechnisierte Gesellschaften ein hohes Maß an demokratischer Teilhabe aller Bürger erforderlich machen. Denn Digitalisierung bedeutet auch verzweigte Informations- und Entscheidungskanäle. Großfürst Wladimir der Große (960 - 1015), das Vorbild Putins, taugt nicht als Muster für eine offene, demokratische und im Kern säkulare Gesellschaft.
 

In der Ukraine sind diese Widersprüche bereits zu Anfang dieses Jahrhunderts und Jahrtausends offen zu Tage getreten, wahrscheinlich wegen der direkten Nachbarschaft zum Westen, aber auch wegen der bitteren und unauslöschlichen Erfahrungen aus der Sowjetzeit. Würde sich das Land jetzt unter dem Druck militärischer Gewalt unterwerfen müssen, könnte ihm ein ähnliches Schicksal drohen wie Russland.
 

Letzteres ist derzeit auf dem Weg zu einer alle Schichten umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Verelendung. Die Intellektuellen dort wissen das, können sich aber gegen die riesige Anzahl der Mitläufer nicht durchsetzen. An Großdemonstrationen, die Nawalny organisieren konnte, ist in der augenblicklichen Lage nicht zu denken, nicht zuletzt wegen der drakonischen Strafen für Protestierer.
Welche Optionen bleiben der Ukraine, um aus diesem Teufelskreis entkommen zu können? Die NATO wird ihr die Waffen, die zu einer Kriegswende führen könnten, nicht liefern. Also keine modernen Kampfflugzeuge, keine modernen Raketen. Die Versorgung mit Strom, Wasser und Lebensmittel ist partiell gestört. Ein Aufstand der Bürger in Russlands großen Städten scheint zurzeit unwahrscheinlich. So verbleibt theoretisch als letzte Möglichkeit ein Cyberkrieg.
 

Konkret: Das Eindringen in russische Computersysteme, um genauere Informationen über die Pläne des Feindes zu gewinnen. Parallel dazu Veränderungen an den Inhalten offizieller Websites, um die russische Bevölkerung über die tatsächliche Lage informieren zu können. Außerdem Versuche, die Steuerung wichtiger militärischer Infrastruktur in Russland zu übernehmen. Von der Binneninformation der Truppenteile bis zum Umleiten von Raketen und Flugzeugen. Hierzu bedarf es exzellenter Fachleute und bester Digitaltechnik. Idealerweise sollten diese Maßnahmen von unterschiedlichen Standorten aus vorgenommen werden. Etwa aus den baltischen Staaten, aus dem polnisch-ukrainischen Grenzgebiet, aus Georgien und Moldawien, aber auch aus Armenien und Aserbaidschan. Dies bedürfte einer konzertierten Aktion von EU und den USA. Es verbleibt nur wenig Zeit. Denn mit jedem Tag könnte das, was in der Ukraine erhalten werden soll, bereits vernichtet sein.

 

Fürwahr: Wir leben und kämpfen in finsteren Zeiten.

 

"Das kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens