Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Kritik der reinen Toleranz

Chancengleichheit auch für Verfassungsfeinde?

Schweigemarsch von AfD & Co am 1.9.2018 in Chemnitz (c) MDR

Politische Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. So bestimmt es Artikel 21 des Grundgesetzes. Deswegen dürfen sie von der Regierung nicht in ihrem Recht auf Chancengleichheit beschnitten werden. Derselbe Grundgesetzartikel regelt aber auch die Voraussetzungen, welche die Parteien erfüllen müssen. So muss ihre innere Ordnung demokratischen Grundsätzen entsprechen und sie dürfen weder die demokratische Grundordnung beeinträchtigen noch sie beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik gefährden wollen. Vor diesem Hintergrund wirft das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur vermeintlichen Verletzung der Chancengleichheit von Parteien durch amtlich verbreitete Einschätzungen eines Bundesministers Fragen auf.
 

Denn es ging in der Sache nicht um einen Eingriff der Exekutive in die Auseinandersetzung innerhalb der Legislative und erst recht nicht um die Benachteiligung einer im Bundestag vertretenen Partei durch ein Ministerium. Vielmehr hat Innenminister Horst Seehofer als Verfassungsminister Stellung bezogen zu Angriffen der AfD-Bundestagsfraktion auf den Bundespräsidenten.

Konkret warf diese rechtspopulistische bis offen faschistische Partei dem Staatsoberhaupt die Unterstützung einer vermeintlich linksradikalen Großveranstaltung in Chemnitz vor. Da der Präsident weder Partei ist noch dem Deutschen Bundestag angehört (GG Artikel 55), musste die AfD auch von einer besonderen Instanz zurechtgewiesen werden. Denn sie hat nicht nur bei den ihrer Attacke zugrundeliegenden Vorgängen den Verdacht erweckt, dass sie im Ganzen oder in Teilen erhebliche Probleme mit der Verfassung dieses Staates hat. Ja, dass sie sich nachweisbar als staatszersetzend geriert und deswegen für die Bundesrepublik hochgefährlich ist oder zumindest werden kann. Eine solche offizielle Verlautbarung, sei es im Parlament oder in den Medien, hat nichts mit der Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung oder eines ihrer Ministerien zu tun, wie das Bundesverfassungsgericht meint. Vielmehr ist es Pflicht der demokratischen Institutionen, auf offensichtlich undemokratische Tendenzen in der Parteienlandschaft unübersehbar hinzuweisen.

Die Verärgerung der AfD bezog sich auf ein Konzert gegen Rassismus, das unter dem Motto „Wir sind mehr“ am 3. September 2018 in Chemnitz stattfand. 65.000 Menschen hatten daran teilgenommen. Künstler wie Die Toten Hosen, Casper, Feine Sahne Fischfilet, K.I.Z, Marteria oder Nura waren dort aufgetreten. An der Teilnahme von Feine Sahne Fischfilet nahm die AfD besonderen Anstoß, weil diese Band von den Verfassungsschutzämtern Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen in zurückliegenden Jahren beobachtet worden war. Anscheinend, weil die Musiker ihre Position gegen rechts sehr drastisch artikuliert hatten. Und in den ostdeutschen Verfassungsschutzämtern scheint man auf dem rechten Auge besonders blind zu sein, wie die Mordserie des NSU zu belegen scheint.

Das Konzert war die Antwort auf Ausschreitungen während des Chemnitzer Stadtfestes. In der Nacht vom 25. auf den 26. August war ein Mann in einem Streit von einem Asylbewerber tödlich verletzt worden. Am 27. August initiierten rechte Kreise eine Demonstration gegen Migranten, die von erheblichen Krawallen begleitet wurde. Für den 1. September war von den AfD-Landesverbände Sachsen, Brandenburg und Thüringen zu einem „Schweigemarsch“ aufgerufen worden. An diesem nahmen auch Vertreter von Pegida, der Identitären Bewegung und rechtsextremen „Kameradschaften“ teil. Aus diesen Gruppen heraus kam es zum Ende der Kundgebung zu gewaltsamen Übergriffen gegen Gegendemonstranten, die das Ausmaß von Hetzjagden annahmen. Videos von Augenzeugen bewiesen eindeutig, wer Angreifer und wer Opfer war. Da der damalige Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, die Tatsachenlage bestritten hatte und zu keiner gegenteiligen Bewertung bereit war, wurde er später nach einem parteipolitischen Hickhack in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Mittlerweile ist er Berater einer Kölner Anwaltskanzlei, die häufig rechte und rechtsextreme Parteien und Gruppen vertritt.

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts löst sich vom realen Streitfall, es abstrahiert ihn noch nicht einmal, um daraus Allgemeingültigkeit abzuleiten, sondern es beschwört eine „reine“ Toleranz, die inhaltsleer ist und zum Instrument repressiver Politik werden kann (siehe Wolff/Moore/Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, 1965). Das Gericht hätte bei Immanuel Kant nachschlagen sollen, der bereits vor über 200 Jahren eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Toleranz gab: „Toleranz ist der Ausgang des Menschen aus dem beschränkten Egoismus seiner selbst, seiner Gesellschaft, seines Staates, der die für ihn und die Menschheit unaufgebbar scheinenden Werte benennt, um sie in einer den anderen achtenden Haltung zu vertreten und zu verteidigen.“ Kurz: Die Toleranz des einen setzt die Toleranzbereitschaft des anderen voraus. Von der AfD und ihren Verbündeten ist das nicht zu erwarten. Folglich ist solchen Verfassungsfeinden nicht mit positionsloser Neutralität beizukommen.

Diese höchstrichterliche Entscheidung bewegt sich auf demselben juristischen Niveau, das bereits die Verwerfung des Antrags zum Verbot der NPD prägte. Dieser Partei wurde zwar ihre Verfassungsfeindlichkeit ausdrücklich bescheinigt, ein Verbot hingegen wurde abgelehnt mit der Begründung, dass die Anzahl ihrer Mitglieder und Sympathisanten zu gering sei, als dass von ihnen eine Gefahr für die Bundesrepublik ausginge. Ein objektiver Blick nach Ostdeutschland hätte bereits damals genügt, um eine braune Einheitsfront aus AfD, NPD, Identitären, so genannten freien Kameradschaften und Pegida feststellen zu können.

 

Nicht von ungefähr erinnert das Grundgesetz an den nationalsozialistischen Unrechtsstaat, dessen Rechtsnachfolger die Bundesrepublik ist. Im Artikel 139 heißt es zwar, dass „die zur Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus erlassenen Rechtsvorschriften“ die Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berühren würden. Aber die von den Alliierten gebrandmarkten und verfolgten Verbrechen stellen eine immerwährende historische Kulisse dar, vor der sich der Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland stets neu bewähren muss.

 

KPM