Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Hass, Verrat, verbrannte Erde

Was von Russland übrig bleibt

Angriff auf Wohnhäuser in Mariupol © ARD

Der russische Überfall auf die Ukraine hat deutlich gemacht, wie paradox die Strategie der atomaren Abschreckung ist. Denn unterhalb der nuklearen Schwelle lässt sich nahezu jeder Krieg gegen fast jeden führen. Unabhängig davon, ob er als Angriffs- oder Verteidigungskrieg einzustufen ist, ob er kalkuliert die Zivilbevölkerung einbezieht und die typischen Merkmale von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufweist. Es muss lediglich gewährleistet sein, dass elementare Interessen der großen Atommächte Russland, China und USA nicht tangiert sind, dass insbesondere die rote Linie zwischen NATO und russisch dominierter OVKS (Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit) nicht überschritten wird.
 

Während in der Zeit des Kalten Kriegs die Interessensphären der Blöcke klar definiert und voneinander abgegrenzt waren, fanden sich nach der Selbstauflösung der Sowjetunion viele Ostblockstaaten entweder in einer Art Interregnum wieder oder sie betrieben konsequent eine Neuorientierung. Hier sind vor allem die baltischen Republiken, Polen, Ungarn, die Slowakei, Tschechien, Moldau, Georgien und auch die Ukraine zu erwähnen. In Russland wurden Gorbatschows Prinzipien Glasnost (Einbeziehung der Öffentlichkeit) und Perestroika (Modernisierung der Zentralverwaltungswirtschaft hin zu einem alle Bereiche umfassenden gesellschaftlichen Umbau) nicht weiterverfolgt. Dort entstand ein Konstrukt mit Vorläufigkeitscharakter, in dem lange noch nicht endgültig geklärt war, ob die Zukunft der Demokratie oder erneut einer autoritären, gar diktatorischen Herrschaftsform gehören würde.
 

Die vor allem von den USA und der EU nach dem Ende der Blöcke betriebene wirtschaftliche Globalisierung unter neoliberalen Vorzeichen nahm Russland wegen der ungeklärten Rechtsordnung lediglich als Exportland für eigene Produkte und als Lieferant fossiler Brennstoffe (Gas, Öl) und seltener Erden (Nickel) wahr. Das forcierte dort die Rückbesinnung auf das Allrussische Imperium der Zaren- bzw. Kaiserzeit. Die Umstände gestatteten dem von Boris Jelzin protegierten Wladimir Putin die Definition einer neuen gesellschaftlichen Ideologie, die den 75 Jahre lang proklamierten Sozialismus ersetzen sollte. An die Stelle von Lenin und dessen sozialen Utopien, die kaum umgesetzt worden waren, trat ein Neuaufguss von Altbekanntem, historisch Überständigem. Nämlich die Idee des dreieinigen russischen Volkes, dessen historische Vorläufer Grossrussen (Bewohner Russlands), Kleinrussen (Ukrainer) und Belarussen waren. Diese nationale Karte überschätzte die Rolle der Ethnien in den betroffenen Ländern und unterschätzte die Regeln einer transnationalen kapitalistischen Wirtschaft. Parallel zur Vernachlässigung der technologischen Entwicklung fand eine neue Hierarchisierung der Gesellschaft und eine Überbetonung des Militärischen statt. In den Kategorien Putins mag das der logische Schluss gewesen sein. Denn das Zarenreich war eine Zwangsvereinigung von Völkern gewesen, die ohne Militär und militärische Eroberungen nicht möglich gewesen wäre. Putin baute seit 1999 den militärischen Sektor zu Lasten des Sozialstaats aus und überließ die wirtschaftlichen Potentiale des Landes überwiegend einer kleinen Gruppe wirtschaftlicher Glücksritter, den Oligarchen, welche die strukturellen Verwerfungen des sich auflösenden Sowjetstaats zu ihren Gunsten nutzten und ihr Vermögen zu großen Teilen außer Landes brachten.
Die Welt des Kleinbürgers Wladimir Putin (die viele Gemeinsamkeiten mit Gorkis Stück „Die Kleinbürger“ aus dem Jahr 1901 aufweist) erschöpft sich in den Prachträumen des Kremls samt Türen schwingender Lakaien und in den fragwürdigen Sandkastenspielen mäßig talentierter Militärs.
 

Der Dramatiker und Literat Maxim Gorki charakterisierte das russische Kleinbürgertum so: »Das Kleinbürgertum ist der seelische Charakterzug der Repräsentanten der herrschenden Klassen der Gegenwart. Die Grundzüge des Kleinbürgertums sind ein krüppelhaft entwickeltes Gefühl des Eigentumsrechtes, ein stets hochgespanntes Verlangen nach innerer und äußerer Ruhe, eine dunkle Angst vor allem, was auf irgendeine Weise diese Ruhe verscheuchen könnte, und ein hartnäckiges Streben, sich so rasch als möglich alles erklären zu können, was das gewöhnliche Gleichgewicht der Seele ins Schwanken bringt und die gewohnten Ansichten über das Leben und die Menschen stört. Diese Erklärungen gibt sich der Kleinbürger indessen nicht zu dem Zwecke, um das Neue und Unbekannte zu begreifen, sondern bloß um sich selbst und seine passive Rolle im Kampfe ums Dasein zu rechtfertigen.«
In der Tat scheint mir das ein zutreffendes Psychogramm Putins zu sein. Es könnte noch ergänzt werden um Erich Fromms Definition von sozialer Destruktivität.
 

Putins Angst vor der NATO war und ist eine Paranoia, die typisch ist für persönlichkeitsgestörte Charaktere. Das westliche Militärbündnis wird aktuell von jenen Partnern für unverzichtbar gehalten, die einst Teil des sowjetischen Machtbereichs waren: Estland, Lettland, Litauen, Polen, Tschechien und die Slowakei. Auch die demokratische Führung der Ukraine setzt auf die NATO, weil die Annexion der Krim und die Ausrufung der Separatistengebiete im Donbass einen Bruch der Budapester Vereinbarung von 1994 bedeuteten, welche auch die territoriale Integrität des Landes zum Inhalt hatte. Die von Putin in Gang gesetzte „Heimholung“ ins Allrussische Reich, die nichts anderes ist als ein äußerst brutaler, bewusst auch gegen die Zivilbevölkerung gerichteter Angriffskrieg, bestätigt die Sorgen von gestern.
 

Angesichts der anhaltenden schweren Kämpfe erscheinen mir die gemeldeten diplomatischen Anfangserfolge über einen geplanten Waffenstillstand, gar über eine „neutralisierte“ Ukraine (neutral gegenüber wem?), als ein russisches Täuschungsmanöver. Die Streitkräfte der Ukraine werden ihr Land freischießen müssen. Werden jeden Aggressor vertreiben oder kampfunfähig machen müssen. Dazu bedarf es wirkungsvoller Waffen aus den NATO-Staaten, die ohne Medienspektakel rasch zu liefern sind. Dabei muss und darf die NATO kein Kombattant sein.
 

Das einzige moralisch und politisch legitimierte Ziel kann nur die Vertreibung der Besatzungsmacht sein, idealerweise die militärische Kapitulation Russlands. Nur eine Niederlage vom Ausmaß Stalingrads wird den demokratischen Kräften in Russland den nötigen Auftrieb geben können und dem Land eine humane Zukunft eröffnen. Putins Krieg hat bereits jetzt in der Ukraine einen vorher nie gekannten Hass auf Russland heraufbeschworen. Durch die verbrannten Landschaften und zerstörten Wohnhäuser wird er täglich neu entfacht. Deswegen kann ein Kompromissfrieden kein Frieden sein, sondern würde allen Erfahrungen nach ständig neue gewaltsame Auseinandersetzungen, unter Umständen als Guerillakrieg, nach sich ziehen.

 

Klaus Philipp Mertens