Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Die neunten Tage im November

Gedanken über Revolution und Konterrevolution

Der neunte November scheint ein Schicksalstag in der deutschen Geschichte zu sein. Am 9. November 1918 wurden die deutsche Republik (durch den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann) sowie fast parallel eine „freie sozialistische Republik“ (durch den Spartakisten Karl Liebknecht) ausgerufen. Exakt fünf Jahre später versuchten die Konterrevolutionäre Ludendorff und Hitler die noch kleine Flamme der Demokratie mit ihrem Putsch zu ersticken, der Versuch scheiterte (noch). In der Pogromnacht vom 9.11.1938 zeigte der 1933 an die Macht gelangte Faschismus endgültig seine Fratze und intonierte die Ouvertüre zu Krieg und Völkermord. Diese „konservative Revolution“ speiste sich aus Nationalchauvinismus, Totalitarismus, Rassismus und Wirtschaftsimperialismus und war der bislang größte Angriff auf die Menschenrechte.

Ganz anders und hoffnungsvoller, wenn auch von mehreren Zufälligkeiten bestimmt, verlief der 9. November 1989. Unter dem Druck der Ost-Berliner Bevölkerung öffneten die Grenzorgane der DDR die Mauer. Sowohl der Rundfunk der DDR als auch westdeutsche und internationale Nachrichtensendungen hatten am frühen Abend, etwa ab 19:04 Uhr, über eine Pressekonferenz der Regierung berichtet, auf welcher Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros der SED, vor dem Hintergrund einer anhaltenden Fluchtbewegung aus der DDR in die CSSR und nach Ungarn einen freien Reiseverkehr angekündigt hatte. Der sollte jedoch nach dem vorangegangenen Beschluss von Staatsrat, Politbüro und Zentralkomitee erst am folgenden Tag verkündet und umgesetzt werden. Deswegen waren die Passkontrolleinheit der Staatssicherheit und die Grenztruppen zu diesem Zeitpunkt noch nicht informiert gewesen. Schabowski hatte diese Verfügung in den ihm übergebenen Dokumenten übersehen und war von einem unverzüglich Inkrafttreten ausgegangen.

Als am 9. November 1918 Philipp Scheidemann übereilt die Republik ausrief, um USPD und Spartakisten zuvorzukommen, hatten die Mehrheitssozialisten die entscheidenden Fragen weder gestellt noch beantwortet. Nämlich die, was auf die autoritäre Monarchie folgen sollte und wie mit den Brandstiftern von 1914 umzugehen wäre. Denn der (Erste) Weltkrieg war militärisch verloren und jene, die ihn für ein legitimes Mittel hielten, um ihre Großmachtträume umzusetzen, sträubten sich dagegen, den Bankrott ihrer Politik anzumelden. Nicht der Kaiser, nicht Hindenburg, nicht Ludendorff wollten sich in Waffenstillstandsverhandlungen mit den Kriegsgegnern begeben. Das muteten sie der Opposition, allen voran den Sozialdemokraten, zu. Die wollten zwar den Krieg beenden, aber eine Revolution lag ihnen fern. Einen Umsturz, also den Bruch mit der Vergangenheit und die Schaffung einer neuen demokratischen und sozialistischen Gesellschaft, verfolgten lediglich die Unabhängigen Sozialdemokraten und der Spartakusbund, an deren Spitze Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg standen. So geriet die deutsche Revolution vom November 1918 in ihrer entscheidenden Phase zu einer Fortschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse des Kaiserreichs. Der Kaiser wurde nicht vor Gericht gestellt und durfte ins niederländische Exil gehen, seine Generäle aber blieben und kommandierten bald darauf das 100.000 Mann-Heer der Weimarer Republik. Die demokratische Weimarer Staatsverfassung haben die Militärs mehrheitlich nie akzeptiert und so wurden sie wissentlich oder grob fahrlässig zu Wegbereitern des Nationalsozialismus.
 

Revolution müsste tatsächlich anderes beinhalten. Die Chinesen deuten den Begriff mit einem Ausdruck, der zurückübersetzt „den Auftrag ändern“ lautet. Die sozialdemokratischen Insolvenzverwalter hingegen versuchten, einerseits die Kriegshetzer im Lande und andererseits die Allierten zu beschwichtigen. Dies ging im Wesentlichen zu Lasten des größten Teils der Bevölkerung, vor allem der hungernden Arbeiter und kleinen Angestellten. Politiker wie der Reichswehrminister Gustav Noske (Niederschlagung der Berliner Märzkämpfe 1919) oder der Berliner Polizeipräsident Karl Zörgiebel (verantwortlich für den „Blutmai“ 1929) symbolisierten, dass die alten Mächtigen längst wieder an die Schalthebel zurückgekehrt waren.

Ein Jahr zuvor, im November 1917 (nach dem alten russischen Kalender war es der 17. Oktober), vollzog sich in Russland eine Revolution; der Zar, viele Mitglieder seiner Familie und ein großer Teil seiner Vertrauten wurden ermordet; Lenin und Trotzki gründeten die Sowjet-Union, die sich bald schon als das „Vaterland aller Werktätigen“ verstand und zumindest in ihrer Anfangsphase eine große Anziehungskraft auf sozialistische und kommunistische Parteien in Europa und der Welt ausübte. Doch eine deutsche Sozialistin und Kommunistin, Rosa Luxemburg, ging mit den Vätern der „Großen sozialistischen Oktoberrevolution“ hart ins Gericht und warf ihnen die Verletzung sozialistischen Idealen vor. Denn die Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD), aus denen die Spartakisten und danach die Kommunisten hervorgegangen waren, hatten „ihren“ Karl Marx anders verstanden. Ging jener doch davon aus, dass erst die unübersehbaren Widersprüche in der kapitalistischen Produktion die Triebkräfte für eine Revolution hervorbringen könnten. Im Agrar- und Feudalstaat Russland war man davon weit entfernt. Die Mehrheit der Bevölkerung kannte lediglich das tägliche Elend und verspürte den Willen, dieses zu überwinden. Der Sturz des Feudalismus und die Einführung einer regulierten Marktwirtschaft wären nach der Marxschen Ökonomie das Naheliegende gewesen. Die russischen Sozialdemokraten, die Menschewiki, verfolgten solche Ziele, konnten sich aber nicht durchsetzen, weil große Teile der Bevölkerung ihnen misstrauten und ihnen eine zu große Rücksichtnahme gegenüber dem Adel vorwarfen.

In Deutschland zeigten sich immer deutlicher die Auswirkungen einer nicht stattgefundenen Revolution. Am 9. November 1923 versuchten Erich Ludendorff, einst Generalquartiermeister der kaiserlichen Armee, und der Nationalsozialist Adolf Hitler von München aus einen Marsch nach Berlin, um dort die Regierung zu stürzen. Der Versuch misslang, diesmal jedenfalls noch.

Der Erste Weltkrieg hatte nicht nur Europa verändert. Mit seinem Ende gerieten auch die USA in eine wirtschaftliche Depression. Die Zahl der Arbeitslosen nahm stark zu, die Preise stiegen kontinuierlich. Streiks und eine erhöhte Kriminalitätsrate waren Begleiter der desaströsen Wirtschaftslage. Zudem erschreckte die erfolgreiche kommunistische Revolution in Russland die politische Führung der USA. Denn auch in den Vereinigten Staaten gewannen linke Kräfte an Bedeutung. Im September 1919 kam es nach Abspaltungen von der Sozialistischen Partei zur Gründung der „Communist Party“sowie der „Communist Labour Party“. Daneben gab es noch diverse Gruppierungen von Anarchisten und anderen Radikalen mit jeweils unterschiedlichen ideologischen Ausrichtungen. Die Regierungspropaganda machte die politische Linke pauschal für die schlechte Lage des Landes verantwortlich und bezeichnete sie undifferenziert als verbrecherische Bolschewiken, die alles daran setzen würden, eine kommunistische Revolution in den USA herbeizuführen. Die geschürte Rote Angst(Red Scare) wurde durch eine Vielzahl von Bombenattentaten genährt, die Anarchisten zugeordnet wurden. So explodierten am 2. Juni 1919 acht Bomben in mehreren Städten des Landes. Dazu fanden sich Flugblätter mit Drohungen von anarchistischen Kämpferngegen die Kapitalistenklasse".

Die Angst vor so genannten Bolschewiken ging mit der Angst vor Einwanderern einher. Letztere machten laut regierungsoffizieller Propaganda neunzig Prozent aller Radikalen im Land aus. Unter Hinweis auf die angeblich drohende Gefahr wurden dabei geltende Gesetze missachtet oder zum Nachteil der betroffenen Einwanderer geändert. Vielfach kam es zu gewaltsamen Übergriffen auf völlig Unschuldige.
Man erkennt: In der Person von Donald Trump leben die Folgen einer völlig verfehlten US-amerikanischen Sozialpolitik fort.
Zwei italienische Einwanderer, Ferdinando Nicola Sacco und Bartolomeo Vanzetti, die sich einer anarchistischen Arbeiterbewegung angeschlossen hatten, gerierten 1927 in den Blickpunkt der Ermittlungsbehörden, weil man sie eines Raubüberfalls und eines Doppelmords verdächtigte. Für ihre Beteiligung an den Verbrechen gab es jedoch keine überzeugenden Beweise. Dennoch wurden sie zum Tode verurteilt und auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Ihre Verurteilung und ihre Hinrichtung lösten weltweit Proteste aus. Erst ein halbes Jahrhundert danach wurden sie rehabilitiert.

Noch einmal zurück zu Revolutionen in Deutschland. 1989 konnte man erleben, wie eine Bürgerrechtsbewegung ein wirtschaftlich marodes Staatssystem, das keine weltanschauliche Überzeugungskraft mehr besaß und ständig gegen seine eigenen Prinzipien verstieß, stürzen konnte. Dieser friedlichen Revolution waren jahrelange Widerstände von Einzelnen und kleinen Gruppen vorangegangen. Man denke an den Chemiker Robert Havemann, insbesondere an seine Veröffentlichung „Dialektik ohne Dogma“ von 1964. Oder an den Philosophen und Sozialökologen Rudolf Bahro, der 1979 in seinem Buch „Die Alternative“ neue Perspektiven für eine sozialistische Gesellschaft eröffnete. Auch an die Protestlieder von Wolf Biermann, die Ost und West bewegten (selbst wenn ihr Autor immer noch den Irak-Krieg für gerechtfertigt hält), und nicht zuletzt an die mutigen Christen in der Berliner Gethsemane-Kirche und der Leipziger Nikolaikirche.

Bundespräsident Walter Steinmeier hat bei der diesjährigen Erinnerungsveranstaltung an die 9. Novembertage von 1918, 1938 und 1989 den Ludendorff-Hitler-Putsch vom 9.11.1923 nicht explizit erwähnt. Statt dessen forderte er einen weltoffenen Patriotismus. Hinweise darauf, dass letzterer regelmäßig mit Überheblichkeit einhergeht sowie mit einem unkritisch übertriebenen Stolz gegenüber anderen Nationen verbunden ist, nämlich der berühmt-berüchtigten „vaterländischen“ Gesinnung, sucht man im Redetext vergeblich. Von Pro Patria sprachen und sprechen Feudalherren und andere Herrscher vor allem dann, wenn sie Gefahr liefen/laufen, ihre Privilegien und Pfründe zu verlieren. Statt notwendige Reformen zu ermöglichen, appellieren sie an das vaterländische Gefühl ihrer Untertanen.
Darum: Vergessen wir doch einfach den Patriotismus, der eine Ideologie der Herrschenden ist, und ersetzen ihn durch Humanismus. Das wäre eine echte Revolution.

 

Klaus Philipp Mertens