Archiv "Vom Geist der Zeit" | Gesellschaft und Politik

Das Virus, die Politik und der Tod

Covid-19 entgleitet der Kontrolle

Am 12. Dezember löst die Polizei eine spontane Querdenker-Demo auf (c) HS

Am Morgen des 11. Dezembers meldete das RKI 29.875 Neuinfektionen und 598 Tote innerhalb eines Tages. Das ist nicht nur ein trauriger Rekord, es ist auch das Ergebnis eines gesamtgesellschaftlichen Versagens.
 

Bereits Ende September warnte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor hohen Neuinfektionen am Jahresende, damals hielt sie eine Zahl von täglich 19.200 für einen realistischen Worstcase, mittlerweile hat sie die Realität längst überholt. Es war das Bestreben der Kanzlerin, Bund und Länder zu einem abgestimmten einheitlichen Verhalten zu bewegen. Was die Verschärfung der Alltagsbeschränkungen unter Einbeziehung des Handels sowie der Kindertagesstätten und Schulen bedeutet hätte. Denn diese Pandemie ist nur kontrollierbar und medizinisch beherrschbar, wenn die 7-Tage-Inzidenz nicht über 50 Fällen pro 100.000 Einwohnern liegt. Doch vor allem einige Ministerpräsidenten meldeten Bedenken an. Bedenken, die gut informierten Beobachtern und dem überwiegenden Teil der Wissenschaft nicht schlüssig waren und bis heute nicht schlüssig sind. Denn bereits seit dem Frühjahr gelten die Übertragungswege der Seuche als eindeutig nachgewiesen:
 

Das Virus überträgt sich vor allem bei nahen Kontakten von Mensch zu Mensch. Die Übertragung wird begünstigt durch die Anreicherung der Atemluft mit Covid-19-Partikeln. Diese Aerosole können aus geschlossenen Räumen schwer bis gar nicht entweichen. Eine engmaschige Stoßlüftung könnte etwas helfen, ist aber während der kalten Jahreszeit nur schwer praktizierbar. Daraus ergeben sich als Schlussfolgerungen diese Verhaltensregeln: Ein Mindestabstand von 1,5 Metern, die Vermeidung von Menschenansammlungen jenseits des privaten Haushalts, das Tragen einer Atemschutzmaske und eine getrennte sowie permanent wirksame Be- und Entlüftung von Räumen. Zur Vermeidung von Schmierinfektionen sollten auch die Hände regelmäßig gewaschen und gegebenenfalls desinfiziert werden, vor allem, wenn man Geschäfte, Arztpraxen sowie Gaststätten und Klassenräume betritt.
 

Abstand einhalten, Kontakte im öffentlichen und privaten Raum beschränken, Maske tragen und Händehygiene sind Regeln, die von jedermann ohne nennenswerten Aufwand eingehalten werden können. Hingegen ist der kontinuierliche Luftaustausch in Gaststätten, Schulen und Versammlungsräumlichkeiten nur mit einer entsprechenden Technik zu gewährleisten. An dieser mangelt es vielfach. Vor allem in den Innenräumen der Gaststätten, die architektonisch vielfach auf heimelige Nähe konzipiert sind. Darüber hinaus ist dort das permanente Tragen von Masken kontraproduktiv zum Zweck der Einrichtung, kontraproduktiv zu Unterhaltung, zu Trinken und Essen. Schulen und Kitas wurden bislang eher ausnahmsweise mit modernen Be- und Entlüftungsanlagen ausgestattet. Auch die Klimaanlagen von Kinos und Theatern scheinen nicht grundsätzlich vor dem grassierenden Virus zu schützen. Möglicherweise verfügen viele Kaufhäuser über eine effiziente Luftaustauschtechnik. Aber die Einkaufszentren ziehen Menschenmassen an, sodass Häuser und Innenstädte rasch überfüllt sind und Abstandsregeln nicht eingehalten werden können.
 

Aber auch das jedem Einzelnen mögliche Schutzverhalten wird durch Leichtsinn und Übermut immer wieder unterlaufen. War es im Sommer noch das wilde Partyfeiern Jüngerer auf Straßen und Plätzen, so ist es mittlerweile das ungezügelte Treffen in privaten Räumen. Ganz zu schweigen von den Aktionen der Corona-Leugner á la „Querdenken“, die in gefährlicher Allianz mit Verschwörungsideologen und Rechtsextremisten Demonstrationen und Kundgebungen durchführen, auf denen die Gefahr kleingeredet wird und wo die Opfer, die Schwererkrankten und die Toten, verhöhnt werden. Vielfach wird das von Exekutive und Judikative aus formalrechtlichen Gründen toleriert, obwohl solche Propaganda gegen den Schutz der Menschenwürde, der auch Schutz des Lebens und Richtartikel des Grundgesetzes ist, verstößt.
 

Corona bringt es an den Tag. Wir verhalten uns in Teilen undiszipliniert und unsolidarisch. Die Achillesfersen mehrerer Bundesländer scheinen zudem die Schulen zu sein. Hier wurde seit Jahren konsequent an moderner technischer Infrastruktur gespart. Von der erwähnten Klimatechnik über Sanitäranlagen bis zur Digitalisierung. Falls die Schulen geschlossen würden, wäre ein per Internet gestützter Unterricht vielfach gar nicht durchführbar, weil die Fernkommunikation zwischen Lehrer und Schüler allenfalls gestört verliefe. Mutmaßlich deswegen wird von den Kultusministerien immer wieder auf angeblich geringe Infektionsraten in den Schulen verwiesen. Doch das stimmt offenbar gar nicht. 14-Jährige stecken sich in ähnlich hohen Quoten an wie Erwachsene mittleren Alters. Und selbst die Kinder in Grundschulen und Unterstufen sind nicht gefeit. Sie scheinen zwar unauffällige bis milde Verläufe zu haben, aber auch sie geben das Virus weiter – an ältere Mitschüler, Eltern und Großeltern. Letzteres schein sogar für Kitas zu gelten.

Wenn die Bundeskanzlerin im Deutschen Bundestag erklärt: „Wenn wir jetzt vor Weihnachten zu viele Kontakte haben und anschließend es das letzte Weihnachten mit den Großeltern war, dann werden wir etwas versäumt haben. Das sollten wir nicht tun", dann sind ihre Worte als letztes Alarmsignal zu verstehen. Danach kann nur noch eine nicht mehr steuerbare Katastrophe folgen. Das befürchten auch die Experten der Leopoldina und fordern einen sofortigen Lockdown für mehrere Wochen. Von führenden Virologen wie Melanie Brinkmann, Christian Drosten oder Michael Meyer-Hermann ist Ähnliches zu hören. Der Präsident des Robert Koch-Instituts, Prof. Lothar Wieler, appellierte sogar, auf das Reisen rund um die Weihnachtszeit zu verzichten und sich nicht zu größeren Familienfeiern zu treffen. Dabei verwies er auf den Anstieg der Infektionen in den USA unmittelbar nach dem traditionellen „Thanksgiving“.
 

Trotzdem sind beispielsweise von Ministerpräsidenten wie Stefan Weil (Niedersachsen) immer noch wachsweiche Stellungnahmen zu hören. Doch vor wem haben die Politiker solche Angst? Eine Angst, die unverhältnismäßig größer zu sein scheint als die vor dem Virus. Möglicherweise fürchten sie sich vor den Gewohnheiten und Vorurteilen ihrer Wähler. Etwa vor Protesten gegen den als sakrosankt geltenden Familienfeiertag Weihnachten, der allzu oft unfriedlich verläuft und in Gewalt gegen Frauen und Kinder ausartet. Oder ist es die Sorge, das ein völliger Lockdown der Bevölkerung vielleicht zu neuen Einsichten verhelfen würde. Etwas zu Erkenntnissen über die vernachlässigte staatliche Daseinsvorsorge. Wegen der „Schwarzen Null“ und der „Schuldenbremse“. Als ob der Staat ein Tante-Emma-Laden wäre, bei dem alltäglich die Kasse stimmen muss. Längst gelten in der Wirtschaft Investitionen in die Zukunft als gute Kapitalanlage, selbst dann, wenn man sich einen Teilbetrag leihen muss. Und dort wächst auch die Erkenntnis, dass das angeschlagene Bruttosozialprodukt nur gesunden kann, wenn die Bevölkerung überwiegend gesund ist und sich nicht vor schweren Krankheiten fürchten muss. Nur in der Politik scheint sich immer noch eine Krämerseelenmentalität breitzumachen.
 

Ein weitreichender Lockdown für die nächsten sechs Wochen wäre das Gebot der Stunde. Hoffentlich kommen Bundesregierung und Länderregierungen an diesem Wochenende zu dieser Erkenntnis.

 

Das „Kritische Tagebuch“ wird geführt von Klaus Philipp Mertens