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„Das gesetzliche Unrecht muss dem übergesetzlichen Recht weichen“

Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse

© DGB Sachsen

 

 

Die Schuldenbremse wurde 2009 auf Drängen der Steuervermeider-Lobby von der schwarz-roten Bundesregierung ins Grundgesetz eingefügt. Sie unterscheidet nicht zwischen Steuerverschwendung einschließlich der Zementierung steuerlicher Privilegien einerseits und notwendigen Investitionen in Strukturen und Daseinsvorsorge andererseits. Zu letzteren gehören auch Finanzmittel zur Bewältigung von unvorhersehbaren Notlagen. Somit ist sie ein Fremdkörper in einer Verfassung, die Grundrechte mit Alltagsgerechtigkeit zu verbinden sucht.

 

Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz nutzt die Schuldenbremse für seine persönlichen Ambitionen. Deswegen rief er im Namen der CDU wegen einer Lappalie das Bundesverfassungsgericht an. Denn er möchte Bundeskanzler werden und das lieber heute als morgen. Dass er dabei die Bundesrepublik an den Rand der Selbstzerstörung bringen könnte, nimmt er als Kollateralschaden hin. Er ist eben der Trump vom Sauerland.

Der FDP-Vorsitzende und Bundesfinanzminister Christian Lindner bekennt sich ebenfalls zu einer von den Einzelinteressen Weniger geleiteten Auffassung von Volkswirtschaft. Sein Credo: Der Staat dürfe nur ausgeben, was er eingenommen habe. Falls diese Einnahmen aber bewusst begrenzt werden, um hohe Einkommen und große Vermögen steuerlich zu schonen, so wie das derzeit geschieht, ist das Solidarprinzip der Bundesrepublik bedroht. Folglich befinden wir uns an einer Wegscheide. Der Bundeskanzler ist aufgerufen, Dummheit endlich Dummheit zu nennen und Unverschämtheit als Unverschämtheit zu brandmarken.

 

Das Bundesverfassungsgericht hat es mit seiner Entscheidung zur Schuldenbremse versäumt, auf Widersprüche innerhalb unseres Rechtssystems einzugehen und überfällige rechtspolitische Korrekturen einzuleiten. Denn die Artikel 109 und 115 des Grundgesetzes berücksichtigen nicht den Geist der Grundrechte, die auf Menschenwürde und Gerechtigkeit in einer Gemeinschaft von Gleichberechtigten abzielen. Vielmehr schreiben sie eine Abkehr von der Gemeinwirtschaft und die Hinwendung zu einer geistlosen Buchhaltermentalität fest, die kaum Handlungsspielräume zulässt. Die Sozialbindung des Eigentums wird durch diese nachträglich eingefügten Bestimmungen faktisch zur Disposition gestellt.

Eine Schuldenbremse mit Verfassungsrang kann nur dann die Prinzipien dieser Verfassung aufnehmen, wenn bei drohender Überschuldung sämtliche Staatsbürger automatisch und entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit zur zusätzlichen Finanzierung herangezogen werden. Allein der mittlerweile geäußerte Gedanke, dass der Staat sich zu Lasten von sozial Schwachen, Kranken oder Rentnern vermeintlich gesund sparen sollte, ist pervers.

 

Vom Bundesverfassungsgericht erwarte ich, dass man nicht nur die Gesetze kennt, sondern auch ihre möglichen unerwünschten Folgen erkennt und entsprechend klug urteilt. Eine verfassungskonforme Entscheidung hätte die diesbezüglichen Bestimmungen der Artikel 109 und 115 als nicht mit dem Grundgesetz vereinbar verwerfen sollen.

Die juristische Begründung für ein Votum, das über den engen Tellerrand der geschriebenen Gesetze hinausweist, bietet das Rechtsverständnis Gustav Radbruchs, einem der großen Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts. Er begründete in seinem Buch „Rechtsphilosophie“, das 1932 erschienen ist, warum die Idee des Rechts eine Gerechtigkeit ist, die sich aus Gleichheit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit zusammensetzt. Sein 1946 formulierter Grundsatz, der die Erfahrungen aus dem NS-Unrechtsstaat aufnahm und als „Radbruchsche Formel“ in die Rechtsphilosophie einging, lautet: „Das gesetzliche Unrecht muss dem übergesetzlichen Recht weichen.“ Das bedeutet für die Rechtsordnung, dass sie einen Unterschied zwischen positivem, also dem normativen, Recht und dem gerechten Recht vermeiden muss. Diesen Zustand anzustreben, erscheint mir als eine wesentliche Aufgabe des Verfassungsgerichts. Doch dieser ist es mit seiner Entscheidung zur Schuldenbremse nicht gerecht geworden.

 

 

Klaus Philipp Mertens