Als ich vor etwa zwei Jahren auf den Roman „Streulicht“ von Deniz Ohde stieß und den Anfang las, legte ich das Buch rasch zur Seite. Denn falls bereits die erste Seite die literarische Qualität eines Buches verrät, würde sich die weitere Lektüre mutmaßlich nicht lohnen. Der Einstieg erschien mir als geziert, gekünstelt, effekthascherisch.
Ich zitiere die ersten zwei Sätze: „Die Luft verändert sich, wenn man über die Schwelle des Ortes tritt. Eine feine Säure liegt darin, etwas dicker ist sie, als könnte man den Mund öffnen und sie kauen wie Watte.“
Als Kind des Ruhrgebiets, das im Umfeld von Kohlezechen, Kokereien und Hüttenwerken aufwuchs, kenne ich mich mit Dreck und Gestank in Industrieregionen gut aus. Und darum weiß ich, dass sich die Luft rund um Industrieanlagen nicht schlagartig verändert, schon gar nicht am Ortseingangsschild. Vor allem dann nicht, wenn man von einer industriell geprägten Stadt aus unvermittelt die nächste ihrer Art betritt. Wenn ich früher auf Bahnsteig 8 des Dortmunder Hauptbahnhofs stand und auf meinen Zug wartete, roch ich regelmäßig die Dämpfe aus dem Sudhaus der Union Brauerei, die einen halben Kilometer entfernt lag. Reiste ich aus Richtung Düsseldorf ins Revier, nahm ich eine Dunstglocke wahr, die über der gesamten Industrielandschaft lag.
Außerdem: Luft ist ein Gas, das den Duft anderer Stoffe annehmen und übertragen kann, falls diese selbst Gase oder Dämpfe freisetzen. Unter Umständen kann die Umgebungsluft unmittelbar am Werkstor wegen ihrer dort stärkeren Anreicherung mit diversen Partikeln als besonders ekelhaft empfunden werden. Dass ein unangenehmer Geruch die Assoziation auslöst, getränkte Watte zu kauen oder dies zu können, widerspricht den Erfahrungen von Menschen, die mit solchen Belastungen leben mussten oder es noch müssen. In der Regel wollen sie schleunigst auf einen anderen Geschmack kommen.
Das nächste Bild ist ebenfalls nicht stimmig: „Auch mein Gesicht verändert sich am Ortsschild, versteinert zu dem Ausdruck, den mein Vater mir beigebracht hat…“. So viel Automatismus ist unwahrscheinlich. Als Leser glaubt man zu wissen, worum es der Autorin geht. Nämlich, dass Gebäude und Anlagen mit Symbolcharakter Assoziationsketten auslösen können, die aus der Tiefe des eigenen Erlebens herrühren. Vor allem in den Kapiteln, in denen die Merkmale einer zerrütteten Familie und der im Schulalltag sichtbare Antagonismus sozialer Klassen beschrieben werden. Gerade um diese sozialgeschichtlichen Elemente ist es schade, wenn sie in einer überbordenden Symbolik untergehen. Ein gutes Lektorat hätte diese Schwächen durch beherzte Eingriffe beseitigen können. Also ein Lektorat, das über literarisches Gespür verfügt und die Schriftstellerin zum Erzählen ermuntert, nicht aber zur phrasenhaften Ausdeutung ihrer Empfindungen.
Denn Kunst, auch die Kunst der Schriftstellerei, leitet sich von Können ab. Dieses Können beherrschte die Autorin bei ihrem Debüt noch nicht im notwendigen Umfang. Erkennbar wollte sie etwas zustande bringen, was inhaltlich und literarisch Bestand haben sollte. Dabei verirrte sie sich im Kunstlosen.
Josef Reding, ein Autor, der dem Ruhrgebiet entstammte, das Leben in einer Industrieregion sehr gut kannte und die „Dortmunder Gruppe 61“ mitgründete, die sich der Literatur der Arbeitswelt verschrieben hatte, verfasste im Mai 1981 diese Mahnung an Schriftsteller:
„Noch schreiben?
Aus dem fremden,
perforierten Himmel
fädelt sich müdes Wasser.
Schreib so nicht!
Schreib: es regnet;
das bekommt der Sprache.
Oder schreib: es regnet,
und der da hat kein Dach;
das bekommt dem,
der kein Dach hat.
Oder:
Schreib nichts mehr,
bau ein Dach!“
Von der Jury, die Deniz Ohdes „Streulicht“ für „Frankfurt liest ein Buch“ auswählte, hätte ich größere literarische Kompetenz erwartet.
Klaus Philipp Mertens
Bibliografische Daten:
Deniz Ohde
Streulicht
Roman
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
284 Seiten. Hardcover
Ladenpreis 22,00 Euro
ISBN 978-3-518-42963-1