Archiv Buchtipp

Christoph Hein: Ein Wort allein für Amalia

Gotthold Ephraim Lessings letzte Tage

(c) Insel Verlag

Christoph Hein ermöglicht mit seiner Novelle „Ein Wort allein für Amalia“ Blicke auf den letzten Lebensabschnitt des berühmten Aufklärers.

„Ende Januar im Jahre 1781 fuhr mein schon lange Zeit kranker Vater nach Braunschweig hinüber, um seinen Verpflichtungen dem Hofe gegenüber nachzukommen.“ So beginnt die Schilderung von Lessings letzten Tagen im fiktiven Brief seiner Stieftochter Maria Amalia Henneberg an ihre jüngere Freundin Margarete Blount, der Enkelin von Lessings Freund Alexander Daveson. Christoph Hein zeichnet diesen Todeskampf, der vom 3. bis zum 15 Februar 1781 dauert, in schriftstellerischer Freiheit nach, aber auf der Grundlage von Maria Amalias Tagebuchnotizen und den Berichten weiterer Zeitzeugen. Und er lässt die Verfasserin dieses Briefs, der auf Oktober 1842 datiert ist, also sechzig Jahre nach Lessings Tod, fortfahren:

„Den ersten und zweiten Februar war er in seinen Geschäften eines Bibliothekars Gast des Herzogs und der Herzogin=Witwe. Am zweiten Februar erhielt ich von ihm einen Brief, in dem er von den Messbestellungen bei Frau Hauß in Braunschweig schreibt und mich über sein Befinden beruhigt. Zwei Tage später erhielt ich von Johann Hermann Angott [ein mit Lessing befreundeter Weinhändler, in dessen Haus er bei seinen Besuchen in Braunschweig wohnt] jene Zeilen, die mir alle Hoffnung nahmen und mich leider nicht zu Unrecht in Verzweiflung stürzten.

Am Abend des dritten Februar erlitt mein Vater einen Stickfluss [Lungenödem], der ihn teilweise lähmte und ihm zeitweilig sogar die Sprache nahm. Man trug ihn auf sein Zimmer. Wie der besorgte Angott mir schrieb, verlangte mein Vater nach der endlich überstandenen Nacht lediglich nach dem Barbier. Er wollte sich zurechtmachen lassen, um dann mit der Post nach Wolfenbüttel zu seinem Malchen [Maria Amalia] zu fahren.
Von Ärzten wollte er nichts wissen, obgleich er fortgesetzt Blut spuckte. Angott wie der herbeigerufene Wundarzt verwehrten ihm die Heimreise, konnten den Schwerkranken jedoch nur mit der Bemerkung beruhigen, man habe bereits nach mir schicken lassen. Ich traf am Vierten in Braunschweig ein, gegen fünf Uhr nachmittags.“

 

Die 22-jährige Maria Amalia erledigt die Korrespondenz des großen Aufklärers und sie hört ihrem Stiefvater zu, den sie bereits seit ihrem neunten Geburtstag verehrt und möglicherweise sogar liebt. Der leidet nicht nur an den Qualen der Krankheit. Rückblickend leidet er auch - und mutmaßlich erneut - an dem, was ihm im Leben nach eigener Einschätzung nicht gelungen war. Beispielsweise die Versuche, am Hof Friedrichs des Großen eine Rolle zu spielen und mit dem dort zeitweilig lebenden Voltaire in engeren Kontakt zu treten. Er beklagt sich über die „Spitzfindigkeiten der Theologie und Philosophie“, an denen er sich über einen langen Zeitraum selbst beteiligt hatte, und verwirft, mit Verweis auf Spinoza, endgültig das Religiöse. Mutmaßlich will er dieses Thema im geplanten Stück „Der Derwisch“ zur Sprache bringen, das die Fortsetzung von „Nathan der Weise“ werden soll und eine inhaltliche Kehrtwende bedeuten würde. Doch zur Niederschrift des Stücks kommt er nicht mehr. Zum Toleranzprinzip bekennt er sich weiterhin. Aber eine Toleranz nur um der Toleranz willen lehnt er mittlerweile ab. Und er kritisiert die Literatur und insbesondere das Theater. Von diesem seien lediglich „Dummheiten, Unkosten und Verdruss“ zu erwarten. Schließlich ist er davon überzeugt, sein Talent als Dramatiker, Kritiker und Schriftsteller dem Brotberuf des Bibliothekars geopfert zu haben.
 

Christoph Hein spielt im Titel dieser Briefnovelle auf jenes letzte Wort Lessings an Maria Amalia an, das die Zeugen am Sterbelager (Maria Amalia, der Hofmedicus Brückmann, Daveson und Angott) unterschiedlich vernommen haben. „Sei ruhig, Malchen“ hat der Hofmedicus gehört. Angott hingegen erinnert sich an „Es ist vollbracht, Malchen“, während Daveson auf „Es hat nicht sein sollen, Malchen“ besteht. Hein lässt die Frage nach den tatsächlich gefallenen letzten Worten offen. Damit hält er indirekt an dem Gerücht fest, das damals in der Gesellschaft kursierte und auch in die Literaturgeschichte einging. Nämlich von der Absicht Lessings, seine Stieftochter heiraten zu wollen.
 

Zwischen den Zeilen dieses Briefes klingt aber auch die Enttäuschung des Schriftstellers Christoph Hein über seine eigene Situation an. Er wird geschätzt und gleichzeitig zeigt er sich enttäuscht über den schwankenden Wert dieses Respekts.
 

Das schmale Buch lohnt die Lektüre und der Leser (Mann und Frau) sollte sich mehrfach mit ihm beschäftigen. Die Illustrationen von Rotraut Susanne Berner (liebevoll gezeichnete Früchte, Pflanzen, Insekten, Vögel) werden zum wiederholten Aufschlagen dieses - im besten Sinn des Wortes - literarischen Textes zusätzlich animieren.

 

KPM

 

Bibliografische Daten
 

Christoph Hein
Ein Wort allein für Amalia
Mit Illustrationen von Rotraut Susanne Berner
85 Seiten. Hardcover
Insel – Bücherei Band 1479
Insel Verlag
ISBN 9783458194798
Ladenpreis 14,40 Euro