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„Ja, das Schreiben und das Lesen ist nie unser Fach gewesen...“

Verfügt die Frankfurter Politik über ein Kulturbewusstsein?

Obwohl ihn die Frankfurter Stadtverordneten- versammlung bereits vor einem Jahr beschlossen hat, scheint sich der Neubau der Städtischen Bühnen zu einer unendlichen Geschichte auszuwachsen. Oder genauer: zu einer unendlichen Schmierenkomödie. Es sieht so aus, als gäbe es dafür zwei Hauptgründe. 

 

Frankfurt verfügt über keine verfestigte Kulturtradition. Und deswegen zerbröselt vieles, was sich den Anschein von Kunst und Kultur gibt. Die 1963 eröffnete Theaterdoppelanlage ist 60 Jahre später eine Ruine (tatsächlich oder angeblich). Andere renommierte Theater aus dieser Zeit, die ebenfalls auf den Fundamenten ihrer im Krieg zerstörten Vorgänger wiederaufgebaut wurden, erweisen sich als widerstandsfähiger. Beispielsweise das Bochumer Schauspielhaus oder das Wiener Burgtheater. Von den Letztgenannten weiß ich, dass die dortigen Kommunalverwaltungen ihren Wartungs- und Erhaltungspflichten stets nachgekommen sind. Vom Frankfurter Magistrat hingegen ist überliefert, dass er vor Herausforderungen, die intellektuelle Kompetenz erfordern, gern kapituliert. Irgendwo im Römer soll ein Wandspruch hängen: „Ja, das Schreiben und das Lesen ist nie unser Fach gewesen.“

 

Der zweite Grund soll dem Whistleblowing Frankfurter Römerspatzen zufolge in der unzureichenden Fachkenntnis der Verantwortlichen liegen. Das könnte die Stabsstelle für den Neubau sein, möglicherweise auch die Kulturdezernentin oder beide gleichermaßen. Investigative Frankfurter Bürger mit hoher Affinität zu kulturellen Dingen haben vernommen, dass die vor wenigen Jahren vorgenommene Bauzustandsaufnahme unpräzise und nicht eindeutig interpretierbar sei. Man könnte daraus sowohl die Pflicht zur umfassenden Sanierung des Gebäudes ableiten als auch die Notwendigkeit eines Neubaus. Eine Sanierung würde nach derzeitigem Preisniveau um die 700 Millionen Euro kosten, ein Neubau an zwei Standorten inklusive der Schaffung von Übergangslösungen das Doppelte. Die jeweils vorzunehmenden Arbeiten ergeben sich aus der Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen (VOB). 

 

Ungeklärt sind dem Vernehmen nach auch Fragen zur Bebauung des Grundstücks an der Neuen Mainzer Straße, das von der Stadtsparkasse bzw. der Helaba in Erbpacht übernommen werden und wo das Schauspiel neu erstehen soll. Unter diesem Areal verläuft der S-Bahn-Tunnel zwischen Hauptwache und Taunusanlage. Er ist wegen diverser Hochhäuser großen Belastungen ausgesetzt und müsste unter Umständen verstärkt oder völlig neu gebaut werden. Damit würde die Deutsche Bahn als weiterer Player ins Spiel kommen. 

 

Sollte die Theaterdoppelanlage tatsächlich so marode sein wie in den Gutachten behauptet wird, könnte deren Unbespielbarkeit kurzfristig drohen (Brandschutz, eindringendes Wasser, defekte Leitungen, unzureichende Klimaanlage). Dann stünde Frankfurt ohne Theater und Oper da. Ein Worst Case, der dem parteiübergreifenden Frankfurter Banausentum vermutlich Recht wäre.

 

Klaus Philipp Mertens