Einzelartikel aus „https://bruecke-unter-dem-main.de - Frankfurter Netzzeitschrift“

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Völlig losgelöst …

Gedanken diesseits und jenseits der Fan-Meilen

(C) BRÜCKE unter dem MAIN

Pöhlen gehörte während meiner Kinder- und Jugendjahre zum Leben dazu. Es war die typische Freizeitgestaltung; selbst für jene, die wie ich viel mit dem Fahrrad umherstreiften, sich mit Kameraden trafen, vor denen die Eltern warnten oder Schundromane lasen.
 

Ach, Sie kennen den Ausdruck „pöhlen“ nicht? Er war und ist im Ruhrgebiet gebräuchlich und bezeichnet das Fußballspielen. Vor allem das auf Straßen und in Hinterhöfen. Dieses verlief fast regelfrei. Und zumeist waren jeweils nur vier, fünf Jungen beteiligt. Wer etwas auf sich hielt, ließ sich zum Geburtstag „Pöhlers“ schenken, also richtige Fußballschuhe mit Stollen. In jedem größeren Quartier tummelten sich kleine Gruppen. Zuschauer waren unerwünscht; Mädchen widerte das Treiben ohnehin an. Wer trotzdem zum Glotzen erschien, wurde aufgefordert, mitzuspielen oder Leine zu ziehen. Wir übten uns im Torschießen, Halten, Dribbeln, Kombinieren und Flanken. Gelegentlich wurden dabei Talente sichtbar. Die wanderten dann ab in Vereine. In meiner Heimatstadt Dortmund gab es sie in jedem Stadtteil.
 

Und es gab die ruhmreiche „Borussia“, nämlich den „Ballspielverein Borussia von 1909“, kurz BVB, äußerlich erkennbar an den schwarzen Hosen und gelben Hemden der Spieler. Nicht nur wir Jugendliche sprachen von „schwarzem Hals und gelben Zähnen“ und meinten damit, dass dort Malocher spielten. Also Bergleute, Hüttenwerker, Brauereiarbeiter. Das Vereinszentrum befand sich am Borsigplatz, östlich der Dortmunder Innenstadt gelegen und unweit der „Westfalenhütte“ des Stahlkochers Hoesch. In der Nachbarschaft lagen die Zeche „Kaiserstuhl“ und die „Hansa-Brauerei“.
 

Sportliches Zentrum war die „Kampfbahn rote Erde“, eigentlich ein Leichtathletikstadion, das 1926 fertiggestellt worden war. Der Name greift die historische Bezeichnung Westfalens auf („Land der rothen Erde“). Unmittelbar daneben wurde das 1974 eröffnete „Westfalenstadion“ errichtet.
 

Dass ich trotz des Aufwachsens in einer Fußballregion kein Fan wurde, liegt vermutlich am kommerziellen Eventcharakter von Bundesliga und internationalen Wettbewerben. Zwar schaue ich mir gelegentlich die Spiele von Borussia Dortmund, VfL Bochum oder Schalke 04 im Fernsehen an, ebenso die der deutschen, englischen, französischen und italienischen Mannschaften, zukünftig vermutlich auch die der Österreicher und Schweizer sowie Spiele des Frauenfußballs. Trotz der immer perfektionistischeren Spieltechniken vermisse ich die Spontanität der damaligen Amateure, die sich im Rahmen der Möglichkeiten ebenfalls technisch vervollkommnen wollten.
 

So pflege ich in diesen Wochen der EM-Euphorie die Gelassenheit des sowohl auf- als auch abgeklärten Gelegenheitszuschauers und empfinde vermeintlich Unvorhersehbares als Warnung der Götter vor Übermut. Beispielsweise Blitze und Starkregen während des Spiels Deutschland gegen Dänemark.

 

 

Klaus Philipp Mertens