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Verschleuderte demokratische Teilhabe?

Das geplante Einbürgerungsgesetz setzt falsche Akzente

Die Ampel-Koalition erweist sich als Meister im Aufstellen von politischen Fallstricken, in die sie zumeist selbst fällt. Das von Bundesinnenministerin Nancy Faeser konzipierte neue Einbürgerungsgesetz, das die Realität des Einwanderungslands Bundesrepublik einholen soll, läuft jedoch Gefahr, die tatsächlichen sozialen und strukturellen Probleme Deutschlands zu negieren. Ich zähle im Folgenden einige Gründe auf, die meine Skepsis illustrieren sollen:

 

Wer die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, kann mitwählen. Kann sogar schlimmstenfalls dazu beitragen, dass Gruppen in Kommunal- und Länderparlamente und in den Bundestag einziehen, deren Demokratieverständnis zweifelhaft ist. Ich denke an jenen Teil der 17 Millionen DDR-Bürger, der seither einer Unterwanderung durch Rechtsextremisten Vorschub leistet. Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 verlangte den Ostdeutschen keine nennenswerten Formalitäten ab. Lediglich die ideologische Grenze zum Sozialismus wurde in dem Maße hochgezogen, in dem die Mauer verschwand. Die Mitläufer des alten Systems blieben unbehelligt, wurden indirekt sogar zu neuen Anpassungen ermuntert, indem sie sich gegen das bislang Ungewohnte abgrenzten.

Sogenannte „national-befreite Zonen“, also NS-Exklaven innerhalb der Demokratie, gibt es meines Wissens nach nur im Osten. Die ersten Asylbewerberunterkünfte brannten in den neuen Bundesländern. Dort genießen auch AfD, Identitäre, Dritter Weg und Querdenker einen besonders starken Zuspruch in der Bevölkerung.

Dabei übersehe ich nicht das intensive bürgerschaftliche Engagement in kleinen und großen ostdeutschen Städten, welches das soziale und kulturelle Leben günstig beeinflusst und als vorbildlich gelten kann. So blüht die einstige Buch- und Verlagsmetropole Leipzig wieder unübersehbar auf.

Ganz im Gegensatz zu Berlin, in dem namhafte Verlage Dependancen errichtet haben oder dies beabsichtigen (wie der Frankfurter S. Fischer Verlag). Wer der Kunst, also dem Können, auf die Spur kommen will, ist nicht auf Metropolen angewiesen. Doch seit die Nichtwissenschaft „Betriebswirtschaftslehre“ die Auseinandersetzung mit Literatur, mit Kultur allgemein, ersetzt, steht vielerorts das Verlagsgeschehen auf dem Kopf. Den Kommerz scheint es in die deutsche Hauptstadt zu ziehen, den Geist in die alte Messestadt Leipzig. Und parallel zu dieser Entwicklung hat der Börsenverein des deutschen Buchhandels in seinem „Börsenblatt“ die primitivste Form des Genderns entdeckt, nämlich jene mit Asterisk, Doppelpunkt und Gender-Gap. Funktionale Analphabeten repräsentieren eine vermeintliche Kulturbranche.

 

Mitte der 1990er Jahre irritierte mich im Raum zwischen Osnabrück und Oldenburg, zwischen Bremen und Leer, in dem ich aus beruflichen Gründen häufiger unterwegs war, rechtsradikale Parolen von umgesiedelten Russland-Deutschen. Die nationalistische Ideologie ging einher mit einer bestimmten Form des christlichen Fundamentalismus, überwiegend mit dem der Pfingstbewegung. Eigentlich hätte jede Familie anhand der je eigenen Geschichte das Gift von Faschismus und Rassismus erkennen müssen. Aber Ideologie scheint vielfach überzeugender zu sein als Ratio.

 

Die Zuwanderung ausländischer Arbeiter habe ich in meiner Heimat, dem Ruhrgebiet, ab den frühen 1960er Jahren unmittelbar miterleben können, denn diese Neuen wurden vielfach unsere Nachbarn. Die Konzerne, denen die Zechen und Stahlwerke gehörten, verfügten über ausreichend Wohnungen, auch jenseits der traditionellen Berg- und Stahlarbeitersiedlungen. Es gab zunächst keine Verteilungskämpfe. Außerdem war das Industrierevier die Zuwanderung aus dem Ausland gewohnt. 80 Jahre vorher und noch lange danach waren Arbeitssuchende aus den von Deutschland, Österreich und Russland annektierten Teilen Polens angekommen. Je schneller sie sich in der deutschen Sprache und im Lebensstil der Alteingesessenen zurechtfanden, umso rascher funktionierte die Integration. Mehr als ein Drittel wurde endgültig sesshaft. Ein ähnlich großer Teil wanderte weiter in die Industriebezirke Belgiens und Frankreichs, wo bereits längere Zeit Verwandte wohnten, wodurch die Anpassung erleichtert wurde. Manche der Neuen wollten sogar noch deutscher sein als die Einheimischen und ließen ihre Familiennamen eindeutschen. Andere hingegen waren stolz, Czerwinski, Kwiatkowski, Kuzorra, Marciniak, Marczinski oder Szepan zu heißen. Für uns Kinder der 50er und 60er Jahre zählten sie zu jenem Teil des „Ruhrgebietsadels“, der das Land stärker geprägt hatte als die Krupps, die Kirdorfs oder die Thyssens. Nicht zuletzt trugen viele Spieler von Borussia Dortmund und Schalke 04 polnische Namen.
 

Obwohl uns die jungen italienischen Männer ständig die Freundinnen ausspannten und obwohl die Jugoslawen illegaler Geschäfte verdächtigt wurden, funktionierte das Zusammenleben. Problematischer waren die Türken, die sich zunehmend der Gemeinschaft entzogen. Sie engagierten sich selten in den Gewerkschaften IG Bergbau, IG Metall und ÖTV und so gut wie gar nicht in der SPD. Das waren zu der damaligen Zeit die zentralen Anlaufstationen für ein solidarisches Miteinander.

 

Stattdessen entstanden in den 70er und 80er Jahren immer mehr Moschee-Gemeinden und das Kopftuch, das in der Türkei nicht öffentlich getragen werden durfte, avancierte zum typischen Bekleidungsstück der Frauen. Auf Deutsch konnte sich nur eine Minderheit verständigen. Und was die Eltern nicht praktizierten, forderten sie auch ihren Kindern nicht ab. Folglich war die zweite Generation fremd in dem Land, in dem sie größtenteils geboren wurde. Wenn ich heute jenen Dortmunder Stadtteil besuche, den ich 1976 verlassen hatte, begegnen mir immer wieder türkische „Gastarbeiter“, mittlerweile im Rentenalter, die nach über 40 Jahren nur minimale Deutschkenntnisse besitzen, welche eine wirkliche Kommunikation nicht gestatten. Die Mehrheitsgesellschaft hat das toleriert. Obwohl das auch unseren Interessen widerspracht. Denn dadurch wurden Ghettos geschaffen, wo sich zwischenzeitlich längst Clans aus diversen arabischen und südosteuropäischen Ländern angesiedelt haben, die Parallelstrukturen entwickeln. Und dies nicht im Sinn von Menschenrechten, Demokratie und Kultur.

 

Erst unlängst schlugen Bildungsexperten Alarm, die bei Schülern, die aus Migrantenfamilien kommen, erhebliche Defizite in den Bereichen Sprache und mathematischem Verständnis feststellten. Eine formal einfachere Einbürgerung würde diese Probleme nicht beseitigen. Zudem sind die Anwerbung ausländischer Fachkräfte und deren Förderung nicht mit der Integration abgehängter Generationen gleichzusetzen. Es verwundert mich auch nicht, wenn Industrie, Handel und Handwerk, die allesamt erhebliche Bedenken gegen das Bürgergeld äußerten, auf eine andere Karte setzen. Denn die Schichten des verelendeten Proletariats kann man leicht gegeneinander ausspielen und die soziale Schere in idealer Weise instrumentalisieren. Allah, der geglaubte Erlöser aus dem Morgenland, wurde nie als sozialistischer Barrikadenkämpfer gedacht , sondern er entsprang den Herrschaftsphantasien kleiner Leute, die gern mächtig werden wollten, in der Regel zu Lasten anderer.

 

Klaus Philipp Mertens