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Feindbilder werden dringend benötigt

Religiöser Fundamentalismus, Nationalismus und Herrschaftsansprüche sind die Hauptursachen der Konflikte im Nahen Osten

Anti-israelische Demonstration in Berlin-Neukölln © rbb

So wird eine Enteignung angekündigt und juristisch legitimiert: Ein Israeli jüdisch-orthodoxer Provenienz erklärt einem arabischen Einwohner Ost-Jerusalems, dass dieses Land den Juden von Gott zugesprochen worden sei und der Palästinenser deswegen sein Haus verlassen müsse. Diese Szene aus einer TV-Berichterstattung erinnerte mich an eine fiktive Landnahme, mit der die aktuelle gerechtfertigt wird.
 

Im 1. Buch Mose (Genesis, Bereschit) heißt es: „Und der Ewige sprach zu Abraham: «Zieh du aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und vom Haus deines Vaters nach dem Land, das ich dir zeigen werde. Und ich will dich zu einem großen Volk machen und will dich segnen und deinen Namen groß machen, und du sollst ein Segen sein. Und ich will segnen, die dich segnen, und wer dir flucht, den will ich verdammen, und mit dir sollen sich segnen alle Geschlechter der Erde.» […] Und Abraham nahm sein Weib Sarai und seines Bruders Sohn Lot …. und sie zogen aus, um nach dem Land Kenaan zu gehen. Und Abraham durchzog das Land - und der Kenaanäer war damals im Land. Da erschien der Ewige Abraham und sprach: «Deinem Samen will ich dieses Land geben.» (Diese Verse aus Kapitel 12 sind zitiert aus der deutschsprachigen Übersetzung von Naftali Herz Tur-Sinai (Harry Torczyner), Jerusalem 1954).

Die Geschichte der biblischen Urväter ist kein historischer Bericht. Vielmehr diente sie der Identität eines kleinen Volkes, das die Einheit von Volk, Land und Gott betonte, um sich von fremder Herrschaft und fremder Religion abzugrenzen. Dass in dieser Sage ein anderes Volk weichen musste, damit die Juden einen Lebensraum fanden, war nicht untypisch für das damalige Verständnis von Weltgeschichte. In der heutigen Zeit aber taugt dieses Mittel, das alles dem Zweck der Besitznahme unterordnet, nicht mehr. Auch religiöse Offenbarungen müssen im Kontext der historischen Ereignisse bewertet werden, in denen sie ursprünglich entstanden sind. Sie lassen sich kaum 1:1 in andere Zeiten und Verhältnisse übertragen. Doch einer solch nicht reflektierten, sogar infantilen und reaktionären Interpretation hängt die jüdische Orthodoxie nach wie vor an.

Ihr Verständnis deckt sich in keinem Punkt mit der Theologie der großen jüdischen Denker. Nicht mit dem von Philo, Maimonides oder Spinoza und auch nicht mit dem liberalen und reformierten Judentum, wie es in Deutschland seit der Aufklärung bis zur Nazi-Diktatur typisch war. Ich denke an Moses Mendelssohn, Abraham Geiger, Hermann Cohen, Emil Cassirer oder Leo Baeck. Oder in neuerer Zeit an Ernst Ludwig Ehrlich, Schalom Ben-Chorin, Pnina Navé, Pinchas Lapide. Der zeitweilig auch in Deutschland lehrende jüdische Historiker Moshe Zimmermann von der Hebräischen Universität Jerusalem stellte sich seinen Zuhörern gelegentlich mit den Worten vor: „Ich bin ein Palästinenser“.

Orthodoxe finden häufig ihre Entsprechung in den Fundamentalisten anderer Konfessionen, sie bedingen sich gegenseitig – trotz ihrer Konkurrenz zueinander und sogar trotz der Verachtung, die sie gegenüber den jeweils anderen empfinden. So in der islamisch-fundamentalistischen Welt, wo der völlig unhistorische Umgang mit religiösen Glaubenszeugnissen ebenfalls zur Begründung territorialer Ansprüche herangezogen wird. Die verbrecherische Clique im Gaza-Streifen, die ihr eigenes Volk verheizt, wird propagandistisch und materiell unterstützt von Diktaturen anderer muslimischer Länder. Und sie griff die Steilvorlage von orthodoxen Siedlern in Israel dankbar auf, die arabische Bürger enteignen wollen.
 

Am letzten Wochenende demonstrierten in mehreren deutschen Städten hier lebende Palästinenser und ihre Sympathisanten gegen die Bombardierung Gazas durch die israelische Luftwaffe, ohne die Raketenangriffe gegen Israel zu erwähnen. Mir fielen die türkischen Fahnen auf, die mir signalisierten, dass der Blutsauger Erdogan indirekt mit von Partie ist. Aber auch die zahlreichen Frauen, die ihre Köpfe verhüllten (nicht mit FFP2-Masken) und kraftvoll in die Hassgesänge einstimmten. Sklavinnen bejubelten die Sklaverei – wie kaputt müssen Menschen sein, die so etwas tun? Von der Befreiung der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem war dabei auch die Rede.
 

Mit fiel unwillkürlich ein Schulbuch aus den 1950er und 1960er Jahren ein, das den beziehungsreichen Titel „Deutscher Osten – deutsche Heimat“ trug (Dümmler Verlag, Bonn). Es enthielt neben Landschaftsbeschreibungen die Zeichnungen von Bauwerken aus Schlesien, Danzig und Ostpreußen und beschwor das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen („Dreigeteilt? – niemals!“), die zu diesem Zeitpunkt dort bereits nicht mehr wohnten. Weil sie selbst oder ihre Vorfahren sich an der bislang größten von Menschen herbeigeführten Katastrophe beteiligt hatten und deswegen vertrieben wurden.
 

Die Kenaanäer hingegen waren lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Sie hätten allen Grund gehabt, sich gegen den Herrschaftsanspruch des Urvaters Abraham und seines Gefolges, der als Wille eines Gottes ausgegeben wurde, zu wehren. Doch nach 4.000 Jahren ist diese Frage irrelevant.
Nicht zu leugnen ist, dass das Schicksal der Vertreibung auch Falsche getroffen hat und bis heute trifft. Eine weisheitliche Erfahrung, die in der Bibel wiedergegeben wird, lautet, dass der Gott des Alten und Neuen Testaments seine Sonne aufgehen lässt über Böse und Gute und es regnen lässt über Gerechte und Ungerechte (Matthäus-Evangelium, Kapitel 5, Vers 45). Das ist jedoch kein Grund, diesen Krieg, der erneut leichtfertig bis bewusst vom Zaun gebrochen wurde, zu rechtfertigen.
 

Viele Länder im Nahen Osten leiden unter sozialer Instabilität, weite Teile der jeweiligen Bevölkerung sind verarmt. Usurpatoren pressen die Menschen aus, versagen ihnen jegliche Rechte, jagen sie in kriegerische Auseinandersetzungen, schaffen Feindbilder, damit der tatsächliche Feind im Inneren nicht erkannt wird. Um diese Zustände aufrecht zu erhalten, verbünden sich die Herrschenden mit der Aristokratie des orthodoxen Islams. Soziale Revolutionen scheiterten bereits im Frühstadium an Nationalismus und religiösem Fundamentalismus. Typische Beispiele sind Gamal Abdel Nasser und die ursprünglich säkulare PLO. Statt einer arabischen Revolution stellte sich vor zehn Jahren lediglich ein Hauch von Frühling ein, der schnell verflog. Objektiv benötigt diese Region einen radikalen Wandel hin zum demokratischen Sozialismus und zu völlig säkularen Staatsgebilden. Den rechtsgerichteten Parteien in Israel wäre das nicht recht. Denn sie profitieren von Anschlägen islamistischer Terroristen sowie von Kriegsgefahr und tatsächlichen Kriegen. In einem Israel, das in gesicherten Grenzen lebte, wäre der Likud-Block samt Herrn Netanjahu Vergangenheit. So wie sich im demokratischen Westeuropa Salazar und Franco schließlich nicht mehr halten konnten.

 

Dennoch: Es wäre höchste Zeit, dass an der Klagemauer in Jerusalem Auszüge aus den Ergebnissen der historisch-kritischen Erforschung der Bibel laut verlesen würden oder dass die Erkenntnisse eines der verlorenen Söhne Israels, nämlich die von Karl Marx, auf Spruchbändern zu sehen wären. Und ich wünsche mir, dass aus der al-Aqsa-Moschee und aus dem Felsendom mehrmals täglich „Freude, schöner Götterfunke“ erklänge. Dann könnte ein Jude ein Jude sein, ein Muslim ein Muslim, ein Christ ein Christ und ein Gottloser ein Gottloser.
 

Es wäre die Aufgabe Deutschlands und der EU sowie ihrer Verbündeten, die Verblendeten und Unbelehrbaren zu zwingen, vernünftig zu sein. Dazu müsste man ihnen die Waffen und das Geld entziehen, sich also konträr zur neoliberalen Ideologie zu verhalten. Und dem radikalisierten Teil der jeweiligen muslimischen Bevölkerung wäre klar machen, dass Judenhass die konsequente Abschiebung zur Folge hätte. Um der Glaubwürdigkeit willen sollte auch noch ein Verbotsantrag gegen die AfD gestellt werden.
 

Es gibt viele Lösungsansätze. Aber dazu scheint der Mut zu fehlen.

 

K.P.M.