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Der Sozialismus: Von der Utopie zum Wesenszug der Demokratie

Zum 200. Geburtstag von Friedrich Engels am 28. November 2020

„Die Geschichte hat auch uns unrecht gegeben, hat unsere damalige Ansicht als eine Illusion enthüllt.“ Der Mann, der diese Erkenntnis am 6. März 1895 in London notierte, fünf Monate vor seinem Tod, war niemand anderes als Friedrich Engels, der als Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus gilt. Und er wird in diesem Aufsatz, dem Vorwort zur Neuausgabe von Karl Marx‘ Schrift „Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850“, noch konkreter: „Sie hat nicht nur unseren damaligen Irrtum zerstört, sie hat auch die Bedingungen total umgewälzt, unter denen das Proletariat zu kämpfen hat. Die Kampfweise von 1848 ist heute in jeder Beziehung veraltet.“
 

Was war geschehen?
 

Der aus dem pietistisch geprägten Barmen (heute ein Stadtteil von Wuppertal) stammende Friedrich Engels kam 1838 nach Bremen, um eine kaufmännische Lehre in einem Betrieb zu absolvieren, dessen Inhaber mit seinem Vater, dem Fabrikanten Friedrich Engels sen., befreundet war. Doch die Welt der Manufakturen und des Handels interessierte den jungen Mann nicht. Seine Neigungen galten der Literatur, vorzugsweise Freiligrath, Gutzkow und den Dichtern des „Jungen Deutschland“, der Musik und der eigenen Schriftstellerei. Unter dem Pseudonym Friedrich Oswald schrieb er zeitkritische Beiträge in liberalen Blättern. Er las Friedrich Schleiermachers Schriftensammlung „Über die Religion – Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ und David Friedrich Strauß‘ Buch „Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet“. Allmählich vollzog sich bei ihm eine innere Distanz zum Christentum, das ihm ursprünglich viel bedeutet hatte. Dieser Trend verstärkte sich ab dem Herbst 1841, als er zum Einjährig-Freiwilligen Militärdienst nach Berlin eingezogen worden war. Er nutzte die Anwesenheit in der preußischen Hauptstadt, um philosophische Vorlesungen zu hören (obwohl er an der Universität nicht immatrikuliert war) und zeigte sich von den Ideen der Junghegelianer begeistert. Einen besonderen Einfluss auf ihn hatte die Abhandlung des Philosophen und Theologen Ludwig Feuerbach: „Das Wesen des Christentums“. Darin wurde Gott bzw. die Idee von Gott als Projektion humanistischer Vorstellungen auf eine Metaebene beschrieben, die auf den Menschen zurückstrahlen und bei ihm Reflexionen zu seinem Selbstverständnis auslösen würde. Engels hat diese Epoche, die für ihn zum Schlüsselerlebnis wurde, viel später, 1886, in seiner Schrift „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“ ausführlich geschildert.
 

Einem anderen war es ähnlich ergangen, nämlich dem Studenten der Rechtswissenschaft Karl Marx aus Trier, der ebenfalls im Umfeld der Berliner Universität intensive Kontakte zu den Junghegelianern gepflegt und dabei Philosophie und Nationalökonomie als seine eigentlichen Disziplinen entdeckt hatte. Marx sah sich hineingestellt in eine entscheidende Phase der nachhegelschen Philosophie, die den Idealismus hinter sich gelassen und sich (nach seiner Meinung) mit historischer Notwendigkeit dem Materialismus zugewandt hatte. Nicht mehr Ideen allein galten als Motor für gesellschaftlichen Fortschritt, sondern das Wechselspiel zwischen Mensch und Natur, das neue Techniken, insbesondere in Güterproduktion und -verteilung, sowie neue Eigentumsformen hervorgebracht hatte. Und das ein neues menschliches Selbstbewusstsein ohne religiöse Verankerung sowie zwangsläufig die Notwendigkeit einer neuen und zukunftsweisenden gesellschaftlichen Ordnung (Gerechtigkeit, Solidarität, gemeinschaftliches Eigentum an Produktionsmitteln und dem Boden) notwendig machte.
 

Marx knüpfte an Hegels dialektischer Methode an, also an einem Prozess, der (in abstrahierender Beschreibung) aus These (Lehrsatz, Ausgangsbehauptung), Antithese (Gegenbehauptung) und Synthese (Vereinigung der Gegensätze auf einer neuen höheren Ebene) bestehe und alles Vorhandene unbewusst ständig infrage stelle. Denn die Wirklichkeit müsse sich als vernünftig erweisen und jede Vernunft würde letztlich wirklich werden. Während Hegel dieses in der Weltgeschichte wirkende Prinzip (einschließlich aller Rückschläge) als Ausdruck einer Gottheit interpretierte, er nannte sie den Weltgeist, erkannte Marx darin das elementare Bewegungsgesetz, das dem gesamten menschlichen Handeln innewohne und seinen Ursprung in der Wechselbeziehung von Mensch und Natur habe.
 

Im September 1844 trafen sich Karl Marx und Friedrich Engels in Paris. Letzterer hatte kurz zuvor seine Einarbeitung in der väterlichen Fabrik in Manchester abgeschlossen und während dieses zweijährigen Aufenthalts das soziale Elend der englischen Arbeiterschaft unmittelbar erlebt. Diese Begegnung bildete die Grundlage für die enge Freundschaft, die bis zu Marx‘ Tod 1883 andauerte. Eine Begegnung zwei Jahre früher bei der „Rheinischen Zeitung“ war wesentlich kühler verlaufen; damals misstraute Marx noch dem philosophischen Dilettanten Engels.
Engels veröffentlichte 1845 die Quintessenz seiner englischen Erfahrungen unter dem Titel „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, die zwanzig Jahre später noch einmal in bearbeiteter Form editiert wurde. Obwohl darin Unterschiede zu Marx‘ bisherigen ökonomischen Studien unübersehbar waren (Marx beurteilte die Rolle des Besitzbürgertums als Triebfeder der Industrialisierung positiver), wirkte sich die Schrift fruchtbar aus für die weitere Zusammenarbeit der beiden. Im von ihnen gemeinsam verfassten und 1848 erschienenen „Manifest der kommunistischen Partei“ traten die Grundzüge ihres einhellig formulierten Dialektischen und Historischen Materialismus deutlich zu Tage. Die philosophischen Grundlagen waren in Umkehrung der Hegelschen Sicht definiert und bildeten einen wesentlichen Teil der Lehre vom wissenschaftlichen Sozialismus. Auch die moderne, an Marx und Engels angelehnte, Philosophie arbeitet bis heute auf dieser Grundlage (z.B. die „Frankfurter Schule“).
 

Als problematischer hingegen erwies sich die politische Strategie. Die Forderung nach einer „Diktatur des Proletariats“ entsprach dem Zeitgeist. Insbesondere den diversen Aufständen von Arbeitern, Handwerkern und Kleinbauern seit dem Hambacher Fest von 1832, das den Vormärz einleitete. Zu nennen ist der „Heckeraufstand“ in Baden, der von Friedrich Hecker und Gustav Struve angeführt wurde. Doch im „Sturmmarsch“ von Konstanz nach Karlsruhe zeigte sich, dass Barrikadenkämpfe gegen reguläre Truppen nur verloren werden konnten. Daran änderten auch militärische Talente wie Franz Sigel (später General der Unionsarmee im amerikanischen Bürgerkrieg) und Johann Philipp Becker, mit dem sowohl Marx als auch Engels befreundet waren, nichts. Die Kontroverse über den richtigen Weg des Proletariats zur Ergreifung der politischen Macht beherrschte den Streit zwischen den verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Fraktionen in Preußen (und später im Kaiserreich) , in Frankreich, Belgien, England und Russland während der nächsten Jahrzehnte. Die „Internationale“ mit Sitz in London spaltete sich schließlich.
 

Parallel zu diesen gegenläufigen Entwicklungen strebte Engels die endgültige Fassung eines universalen, wissenschaftlich-philosophischen Systems an, das einerseits vom dialektischen und historischen Materialismus und andererseits von der durch Marx beförderten politischen Ökonomie getragen sein sollte. 1878 erschein sein Buch „Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft“, in dem diese neue Weltanschauung ihr theoretisches Fundament fand. Eine Kurzfassung erschien 1882 unter dem Titel "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft". Neben diesen Darstellungen des so genannten Marxismus stand die Herausgabe und Förderung von Marx‘ Grundlagenwerk „Das Kapital“ im Vordergrund von Engels‘ Arbeit. Der erste Band erschien 1867, der zweite erst nach Marx‘ Tod (14.3.1883). Im November 1894 konnte nach intensiver Bearbeitung anhand der von Marx hinterlassenen Manuskripte schließlich der abschließende dritte Band erscheinen.
 

Von Engels selbst konnten noch „Die Dialektik der Natur“ (1882 abgeschlossen, aber erst aus dem Nachlass 1925 veröffentlicht) und „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates. Im Anschluss an Morgans Forschungen“ (1884 fertiggestellt, aber ebenfalls erst 1925 einem größeren Kreis bekannt geworden) erscheinen.
 

Als sein Vermächtnis an die internationale Arbeiterbewegung gilt sein Vorwort für die Neuausgabe von Marx‘ „Klassenkämpfe in Frankreich“, aus dem ich bereits eingangs zitierte. Daran erinnert er an die gewaltsam ausgetragenen Klassenkämpfe und resümiert: „Wenn sogar diese mächtige Armee  des Proletariats [die der Aufständischen von 1848] noch immer nicht das Ziel erreicht hat, wenn sie, weit entfernt, den Sieg mit einem großen Schlag zu erringen, in hartem, zähem Kampf von Position zu Position langsam vordringen muss, so beweist dies ein für alle Mal, wie unmöglich es 1848 war, die soziale Umgestaltung durch einfache Überrumpelung zu erobern.“
 

Und dann kommt er nach mehreren Verweisen auf ähnliche historische Ereignisse zum Punkt: „Schon das »Kommunistische Manifest« hatte die Erkämpfung des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie, als eine der ersten und wichtigsten Aufgaben des streitbaren Proletariats proklamiert, und Lassalle hatte diesen Punkt wieder aufgenommen. [..] Sie [die Arbeiterparteien] haben das Wahlrecht verwandelt aus einem Mittel der Prellerei, was es bisher war, in ein Werkzeug der Befreiung.“
 

Und er führt weiter aus: „Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war bedeutend veraltet. Machen wir uns keine Illusion darüber: Ein wirklicher Sieg des Aufstandes über das Militär im Straßenkampf, ein Sieg wie zwischen zwei Armeen, gehört zu den größten Seltenheiten.  […]  Wo es sich um eine vollständige Umgestaltung der gesellschaftlichen Organisation handelt, da müssen die Massen selbst mit dabei sein, selbst schon begriffen haben, worum es sich handelt, für was sie mit Leib und Leben eintreten sollen. Das hat uns die Geschichte der letzten fünfzig Jahre gelehrt. […]  Die zwei Millionen Wähler, die sie an die Urnen schickt, bilden die zahlreichste, kompakteste Masse, den entscheidenden "Gewalthaufen" der internationalen proletarischen Armee. Diese Masse liefert schon jetzt über ein Viertel der abgegebenen Stimmen; und wie die Einzelwahlen für den Reichstag, die einzelstaatlichen Landtagswahlen, die Gemeinderats- und Gewerbegerichtswahlen beweisen, nimmt sie unablässig zu. Ihr Wachstum geht so spontan, so stetig, so unaufhaltsam und gleichzeitig so ruhig vor sich wie ein Naturprozess. Alle Regierungseingriffe haben sich ohnmächtig dagegen erwiesen. Auf 2 1/4 Millionen Wähler können wir schon heute rechnen. Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle andern Mächte sich beugen müssen, sie mögen wollen oder nicht. [   ] Die Ironie der Weltgeschichte stellt alles auf den Kopf. Wir, die "Revolutionäre", die "Umstürzler", wir gedeihen weit besser bei den gesetzlichen Mitteln als bei den ungesetzlichen und dem Umsturz. Die Ordnungsparteien, wie sie sich nennen, gehen zugrunde an dem von ihnen selbst geschaffenen gesetzlichen Zustand.“

 

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Außer dem allgemeinverständlichen Hinweis, dass der am 28. November 1820 in Barmen geborene und am 5. August 1895 in London gestorbene Friedrich Engels nicht nur zahlreiche theoretische Schriften von hohem Rang hervorbrachte, sondern auch zu einer entscheidenden Erkenntnis in der Lage war: Der Sieg der arbeitenden Klassen entscheidet sich zivil und demokratisch an der Wahlurne.
 

K.P.M.