Das Bonner Grundgesetz von 1949, das 1990 zur Verfassung des vereinigten Deutschlands wurde und nunmehr 75 Jahre alt, ist vor allem in den ersten 19 Artikeln, den Grundrechten, trotz notwendiger Abstraktion menschenfreundlich, zeitlos und darum zukunftsfähig. Denn es stellt den Menschen (als Summer aller wie immer sich jeweils definierenden Einzelnen) in den Mittelpunkt. Dies ist ein Unterschied zu allen früheren Verfassungen, die Weimarer Reichsverfassung und die Entwurf gebliebene Paulskirchenverfasssung eingeschlossen; dort standen die Menschenrechte am Ende.
Dabei ist mir bewusst, dass das Grundgesetz nichtadäquate Bestimmungen im Familien-, Zivil- und Strafrecht lange überdeckte, anstatt sie unverzüglich aufzuheben. Etwa die Umstände, dass Frauen bis 1958 bei Arbeitsverträgen die Zustimmung des Ehemanns benötigten. Bis 1962 durften sie ohne dessen Einverständnis kein eigenes Bankkonto eröffnen. Und erst nach 1969 wurden verheiratete Frauen voll geschäftsfähig. Diese Einschränkungen entsprachen weder dem Wortlaut noch dem Geist des Grundgesetzes. Vielmehr lebte in diesen Diskriminierungen der Untertanenstaat früherer Jahrhunderte fort. Und insbesondere jene Rolle, die der NS-Staat den Frauen verordnet hatte, nämlich „Mütter im Vaterland“ zu sein. Die Frau als Mutter und Hausfrau im Land des Mannes und Vaters. Folglich hatten sich Frauen über Männer zu definieren. In den Genderformeln „*in“ bzw. „*innen“ wird dieses Abhängigkeitsverhältnis derzeit neu propagiert. Dieser Rückfall in archaische Zeiten fällt – da Allgemeinbildung anscheinend keinen Stellenwert mehr genießt - kaum einem auf. Wer liest schon Genesis 2, Vers 23, den Luther so übersetzte: „Man wird sie Männin nennen, weil sie vom Mann genommen ist“?
Nicht unerwähnt bleiben soll auch, dass gleichgeschlechtliche Liebe erst seit 1994 nicht mehr strafrechtlich verfolgt wird.
Die stillschweigende Tolerierung eines offensichtlichen Unrechts bzw. die weit verbreitete Unfähigkeit zur Geschichts- und Sprachreflexion könnte zusätzlich auf jene deutsche Bildungskatastrophe zurückzuführen sein, die seit 1964 von vielen Fachleuten regelmäßig diagnostiziert wird.
Doch unabhängig von der notwendigen juristischen Verallgemeinerung einerseits und der jeweiligen gesellschaftlich etablierten Dummheit andererseits befindet sich auch das Grundgesetz im Kampf zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklich, wie Jürgen Habermas es treffend formulierte. Denn tatsächlich enthält die Verfassung mehrere Begriffe, die hinterfragt werden müssen, um sie von der Patina des Zeitgeistes zu befreien.
Exemplarisch nenne ich das Eigentum. In Artikel 14, Absätze 1 und 2, heißt es: „Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet. Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“
Doch woran sollte Eigentum überhaupt erworben werden können? Ich denke an jederzeit reproduzierbaren Gütern wie Kleidung, Möbel, Lebensmittel oder Bücher. Hingegen sind die natürliche Umwelt, also Grund und Boden, Wasser sowie Luft nicht vermehrbar, sondern endlich. Dennoch ist der Handel mit Grundstücken ein Wirtschaftsfaktor mit verschwiegenen negativen Folgen (z.B. der Vertreibung von Normalverdienern aus Großstädten). Längst greifen Konzerne auch nach dem Wasser (in ähnlicher Weise haben sie sich Kohle, Öl und Gas angeeignet). An die ständige Vergiftung des Gemeineigentums Luft haben wir uns leider gewöhnt; erst eine Minderheit schreit dagegen an. Die Erkenntnis daraus lautet: Man wird Geschäfte mit begrenzt vorhandenen Gütern nie gemeinnützig gestalten können. Man kann ihren eigennützigen Gebrauch nur grundsätzlich verbieten.
Wir werden auch bei allgemein akzeptierten Verfassungsgrundsätzen von Fall zu Fall weitere Denkschritte machen müssen. Dazu gibt es in der Rechtstheorie längst einen Grundsatz, mit dessen Hilfe das Auseinanderklaffen von Sollen und Sein überwunden werden kann.
Gustav Radbruch, einer der großen Rechtsgelehrten des 20. Jahrhunderts, formulierte 1946 einen Grundsatz, der – ähnlich wie die Grundrechte des Grundgesetzes - die Erfahrungen aus dem NS-Unrechtsstaat aufnahm und der als „Radbruchsche Formel“ in die Rechtstheorie einging. Nämlich:
„Das gesetzliche Unrecht muss dem übergesetzlichen Recht weichen.“
Ich möchte auch noch den Blick lenken auf den Artikel 139 des Grundgesetzes. Er stellt einen Verfassungsgrundsatz außerhalb der Verfassung dar und lautet: »Die zur "Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus" erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt«. Daraus ließe sich ein rechtlicher Handlungsspielraum ableiten, um rechtsradikale Strömungen frühzeitig und wirkungsvoll zu bekämpfen. Obwohl die Bundesrepublik längst souverän ist, hätte Deutschland ohne den Druck der Alliierten, der NS-Ideologie auf alle Zeiten zu entsagen, nie die Chance erhalten, sich zu einem demokratischen Staatswesen entwickeln zu können. Darauf verweist dieser extrakonstitutionelle Grundgesetzartikel.
Klaus Philipp Mertens