Das kritische Tagebuch

Was sind eigentlich Schulden?

Nachhilfe für Finanzminister Christian Lindner

Immer nur lächeln. Ich verstehe zwar die Fragen nicht. Aber die ARD-Redakteurin dafür nicht meine Antworten. Und sie hakt nicht nach. Lächeln und intelligent wirken. Nach dem Sinn meines Unsinns fragt keiner. © Foto ARD © Collage MRG

Der Staat ist zu Ausgaben und Investitionen verpflichtet, um seine Aufgaben erfüllen zu können. Hierzu zählen die öffentliche Daseinsvorsorge einschließlich Gesundheitswesen und Sozialsystem, die Funktionsfähigkeit von Verwaltung, Polizei, Feuerwehr, Bundeswehr, die Stabilität der politischen Institutionen und nicht zuletzt die materiellen Garantien für Demokratie und Rechtsordnung. Ebenso die ständige Pflege der Infrastruktur (Verkehrswesen, Energie, Rahmenbedingungen für die Wirtschaft). Eine exakte Liste wäre sehr umfangreich und würde mehrere Seiten füllen. Das bedeutet, dass es sich um eine Sache von hoher Komplexität handelt, die mit schlichten Worten nicht darstellbar ist. Denn wer Komplexität reduziert, legt Hand an die Wurzeln der demokratischen Ordnung und liefert das Gemeinwesen jenen aus, die nichts mit ihm im Sinn haben.
 

Um diese Aufgaben finanzieren zu können, muss der Staat von seinen Bürgern Mitgliedsbeiträge verlangen, die Steuern genannt werden. Hierbei gilt nominell der Grundsatz, dass Staatsbürger und Firmen entsprechend ihren Bruttoeinkommen bzw. Bruttoerträgen (abzüglich unvermeidlicher Aufwendungen) herangezogen werden. Ein gerechtes Steuersystem, das nicht den Schwächeren mehr abverlangt als den Stärkeren, gilt als Element einer funktionierenden Demokratie. Übersteigt der finanzielle Wert der Aufgaben (der errechneten Kosten) die aktuellen Steuereinnahmen, könnten entweder die Aufgaben gekürzt oder die Steuern erhöht werden. Oder der Staat leiht sich das fehlende Geld und zahlt es in Raten zurück. Diese Art der Finanzierung nennt man die Aufnahme von Staatsschulden.
 

Realistischerweise entspricht ihre bislang aufgelaufene Höhe jener Steuersumme, die Regierungen seit Jahrzehnten denen nicht abverlangt haben, die sie hätten entrichten können. Nämlich den besonders Wohlhabenden und Reichen. Die haben sogar einen Interessensverband gegründet, den Bund der Steuerzahler, der regelmäßig eine sogenannte Schuldenuhr öffentlichkeitswirksam präsentiert. Allerdings: Eine Uhr, welche die notwendig gewesenen Investitionen anzeigt, die von den Schulden bezahlt wurden, fehlt. Und - wie nicht anders zu erwarten - fehlt auch eine Gegenüberstellung von notwendigen Investitionen und der Steuerbereitschaft der Spitzenverdiener. Damit sich an diesem verkehrten Denken bzw. dem Nichtdenken nichts ändert, forderten die Privilegierten vor zwölf Jahren, eine sogenannte Schuldenbremse in Grundgesetz und Länderverfassungen aufzunehmen. Dabei bedienten sie sich einer verbreiteten Angst vor Schulden und ihren Folgen im bildungsfernen Teil der Bevölkerung. Wer das Reflektieren politischer Inhalte nicht gelernt hat, geht schnell den Rattenfängern auf den Leim.
 

Denn für Staatsausgaben kann nicht die Regel gelten, dass man nur das kaufen sollte, was man sich leisten kann. Im Gegensatz zum privaten Konsum oder auch zur Kasse eines Einzelhändlers muss die Gemeinschaft auch langfristig investieren, also über den Tag hinaus. Konkret: in die Zukunft der Bürger. So werden sich beispielsweise die Kosten für eine Schule und Hochschule erst dann rentieren, wenn die heutigen Schüler den jeweiligen Bildungsabschluss erreicht haben und einen qualifizierten und gut bezahlten Beruf ausüben können. Mit den Steuern aus ihren Gehältern tragen sie dann zum Wohl des Staats bei. Wer aber stattdessen die Ausgaben kürzt, vor allem bei der Bildung und im Sozialsystem, verringert drastisch die Chancen der nachwachsenden Generationen. Letztere erben nämlich nicht unsere Schulden, sondern finden Rahmenbedingung für ein gutes Leben vor, die ohne die Investitionen der Älteren nicht möglich sein würden.
 

Wenn Christian Lindner hingegen einen – wie er ihn nannte - arbeitenden Mittelstand in der aktuellen Krise entlasten will, geht ihm exakt jene Eigenverantwortung verloren, die er bei jedem zweiten Interview plakativ einfordert. Nämlich jene zwischen den Generationen. Die eine hat der nachfolgenden die Standards finanziert, auf deren Basis sie Werte schafft und gleichzeitig vieles davon weitergibt. Der Hedonist Christian läuft Gefahr, zum Opfer seiner eigenen Phrasen zu werden. Vor allem aber sollte niemand sie ihm abnehmen. Denn sie sind das Allerletzte.

 

Politiker aus Parteien, die unter dem Einfluss von Steuervermeidern, gar Steuerbetrügern, Immobilienspekulanten oder Winkeladvokaten stehen (um nur einige der besonders Gefährlichen zu nennen), versuchen den Menschen einzureden, dass sie auf Kosten der nächsten Generationen leben würden, falls die Staatsschulden zunähmen. Zu Lasten der Nachgeborenen leben wir aber nur dann, wenn wir weiterhin den Boden, das Wasser und die Luft vergiften, Ungerechtigkeit fördern, Unterdrückung und Kriege finanzieren und diese Erde bis zur Unbewohnbarkeit herunterwirtschaften und zerstören. Dann, und nur dann, vererben wir Elend und Tod.

"Das kritische Tagebuch" führte Klaus Philipp Mertens