Das kritische Tagebuch

Unrettbar verloren

Die SPD mit oder ohne Gerhard Schröder

Demonstration gegen Gerhard Schröder vor dem Hauptbahnhof Hannover © NDR

Die Schiedskommission der SPD hat den Antrag mehrerer Ortsvereine auf Ausschluss Gerhard Schröders verworfen. Denn ein Verstoß gegen sozialdemokratische Grundsätze und die Parteiordnung sei ihm nicht nachzuweisen. Das ist nicht nur, wie es die Überschrift eines Artikels in der Frankfurter Rundschau nahelegt, ein Etappensieg für den ehemaligen Bundeskanzler. Es ist ein Sieg Schröders auf ganzer Linie.

 

Die SPD hat sich nach 1945 zu einer Partei der Beliebigkeit entwickelt. Zwar hieß es im Godesberger Programm von 1959 noch: „Auf deutschem Boden sammeln sich die Sozialisten in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, die jeden in ihren Reihen willkommen heißt, der sich zu den Grundwerten und Grundforderungen des demokratischen Sozialismus bekennt.“

 

Diese Grundwerte wurden im Einzelnen jedoch nicht näher beschrieben, vielmehr ermöglichte das schwammige Programm die Interpretation nahezu jeder Aussage. Mitgliedern und Mandatsträgern waren Erwerb und Verwendung persönlichen Eigentums jenseits eines engen Rahmens nicht verboten. Die angestrebte gemeinwirtschaftliche Solidarität erstarrte zur Floskel für Parteitage. Ebenso war das Verhandeln mit Menschenschindern aller Art, insbesondere mit Diktatoren und anderen Feinden der Demokratie, der Menschenrechte und des Sozialstaats, nicht untersagt. Der Krieg als Mittel der Politik wurde lediglich verbal ausgeschlossen. Die atomare Abschreckung wurde akzeptiert, trotz des vorangegangenen Widerstands gegen die Wiederbewaffnung und des lautstark geführten „Kampfs gegen den Atomtod“. Stattdessen eine euphorisch angekündigte Unverbindlichkeit als politischem Ziel; einem Paradies, dessen Verwirklichung auf den St. Nimmerleinstag verschoben wurde. Über geeignete Wege dorthin fehlte jegliches Wort.

 

Und das Hamburger Programm von 2007, das gegenwärtig gültige, wird auch nicht konkreter. Es ist sogar, gemessen an den Standards sozialistischer Parteien, unangemessen pragmatisch, nahezu inhaltsleer. Der Schlussabschnitt „Unser Weg“ beginnt mit der Einleitung: „Die Zukunft ist offen. Wir versprechen niemandem, dass wir eine Welt voller Konflikte und Widersprüche in ein irdisches Paradies verwandeln können. Wir erkennen Realitäten an, finden uns aber nicht mit den Verhältnissen ab, wie sie sind. Wir wollen den Weg in eine lebenswerte Zukunft gehen. Wir wollen unser Land zukunftsfähig machen.“
 

Das kann man sowohl als den Abschied von Idealen verstehen als auch als Distanzierung von der eigenen Geschichte. Die Eckwerte einer humanen Gesellschaft werden auf das Machbare reduziert, was üblicherweise die Unterwerfung unter politisch und wirtschaftlich Stärkere bedeutet, deren Legitimität nicht bestritten wird.
 

Gerhard Schröder verhält sich exakt so, wie es das Parteiprogramm als Richtschnur entwirft. Dass er in die Partei eintrat, als „Godesberg“ noch verbindlich war (was 1969 auch für mich galt), ist ohne Belang. Die Welt verändert sich ständig, vor allem durch das fehlende Bewusstsein und die Teilnahmslosigkeit der indirekt Beteiligten, was ständig zu gravierenden Rückschritten führt.
 

In Frankfurt am Main hat die SPD einen besonderen Tiefpunkt ihrer Entwicklung erreicht, nämlich den des Verrats. Ihren Genossen Peter Feldmann drängt sie aus dem Amt des Oberbürgermeisters, ohne dass ihn ein Gericht schuldig gesprochen hätte; vielmehr könnte ein jahrelanges Verfahren anstehen, das mit Freispruch endet. Die Präjudizierung eines Urteils gilt als Infragestellung des staatlichen Gewaltmonopols und als Verstoß gegen die verfassungsmäßige Ordnung. Die SPD scheint unrettbar verloren zu sein.

 

"Das kritische Tagebuch" führte Klaus Philipp Mertens