Das kritische Tagebuch

Mertens antwortet

auf Fragen, welche die Redaktion der hr2-Sendung DER TAG ihren Hörern stellt. Aktuell auf diese:

 

Werden Sie Ihre Maske weiter tragen oder sind sie froh über den Wegfall?

Was belastet Sie auf Ihrer Arbeit am meisten? Und wie gehen Sie damit um?

Was sind Ihre drei Voraussagen für das Jahr 2023?

Wer gute Vorsätze hat, kann verlieren. Oder?

Welche Rolle spielt Familie an Weihnachten 2022?

© Mertens & Medien. Redaktionsarchiv 2022

 

 

Werden Sie Ihre Maske weiter tragen oder sind sie froh über den Wegfall?

 

Die Aufhebung der Maskenpflicht wurde in Interviews der „hr-hessenschau“ von der Mehrheit der dazu befragten Bürger als Rückkehr zur Freiheit empfunden. Ich hingegen definiere Freiheit als Abwesenheit von Krankheit, sozialer Not, Unterdrückung, Krieg und Tod. Darum habe ich mich von der Corona-Schutzmaske nie eingeengt gefühlt.
Denn sie hat neben der Impfung dazu beigetragen, dass mir meine Gesundheit erhalten blieb. Virologen und Intensivmediziner habe ich so verstanden, dass die FFP 2-Maske vor einer Virenübertragung schützen kann, die Impfung hingegen, die erst ab 2021 möglich war, vor schweren Covid-19-Verläufen.
 

Deswegen werde ich die Maske auch weiterhin immer dann tragen, wenn ich mich innerhalb größerer Menschengruppen bewege, wo Abstände kaum einzuhalten sind. Beispielsweise in öffentlichen Verkehrsmitteln, im Supermarkt oder im Kaufhaus. Aber auch im Kino und im Theater. Zudem bevorzuge ich seit drei Jahren erst recht solche Gaststätten, die ihre Gäste nicht auf engem Raum zusammenpferchen, nur um den Umsatz pro Quadratmeter erhöhen zu können.

 

Falls Covid tatsächlich einmal zu einer normalen Erkältungskrankheit schrumpfte, würde ich vermutlich großzügiger mit der Infektion, mit mir selbst und den Mitmenschen umgehen. Andererseits habe ich zur Kenntnis genommen, dass sich Menschen in Japan bereits lange vor Corona mit Atemschutzmasken vor Erkältungsepidemien schützen. Es sei ein Gebot der Rücksicht, das weithin akzeptiert würde, klärte mich ein Bekannter auf, der Land und Leute kennt. Rücksichtnahme, so scheint es mir, ist Einsicht in die Notwendigkeit des Miteinanders, ist ein Element menschlicher Freiheit. Darum sollten die aufgeklärten Bürger es nicht zulassen, dass ein Begriff wie Freiheit seiner eigentlichen Inhalte beraubt und im Sinn von nicht zu Ende gedachten egoistischen Begehrlichkeiten instrumentalisiert wird.

 

 

Was belastet Sie auf Ihrer Arbeit am meisten? Und wie gehen Sie damit um?

 

Mich belastet, dass publizistisch tätige Kolleginnen und Kollegen auf den Kompetenzfeldern Allgemein- und Expertenwissen andere Qualitätsmaßstäbe setzten, als ich es in mehr als 40 Berufsjahren getan habe. Und dass sie diese - möglicherweise verordnete – Oberflächlichkeit als normal empfinden.
Ich halte wie Goethes „Iphigenie“ dagegen, indem ich versuche, durch das gute Beispiel vom Gegenteil zu überzeugen.

 

Eigentlich hatte ich mich zurücklehnen wollen. Um die Vorgänge in der Gesellschaft nicht mehr dicht an mich herankommen zu lassen. Hatte dabei durchaus eine Reduktion von Komplexität in Kauf genommen (im Sinn von Niklas Luhmann). Selbst falls andere den Lesern eine Erde vorgaukeln würden, die sich durch Eigenschaften wie „cool“, „geil“, „mega“, „super“ oder „supi“ auszeichnet. Eigenschaften, die alles in ein Licht hüllen, das sämtliche Vorgänge schönfärbt und die unangenehmen verdrängt.
Tatsächlich hatte ich kurz gehofft, dass sich eine solche Gelassenheit der Seele bei mir einstellen könnte. Doch bereits nach zwei Wochen relativen Müßiggangs merkte ich, dass ich nicht dazu in der Lage war, über meinen Schatten zu springen. Denn mein Bewusstsein ließ sich nicht überlisten, es konnte nicht gegen Überzeugungen rebellieren, die Ergebnisse diverser Lernprozesse waren und die mich nach wie vor leiten.

 

Also machte ich weiter, konkret: ich schreibe weiter. Speziell für Newsletter und Zeitschriften kleiner Literatur- und Kulturinitiativen, die keine Autoren bezahlen können. Zusammen mit Aktiven der Frankfurter Literaturinitiative PRO LESEN e.V. gründete ich die „BRÜCKE unter dem MAIN“ als Forum für alle, denen es um Literatur, Kultur und Politik geht.

 

Wer sich öffentlich zu Wort meldet und ein interessiertes Publikum zufriedenstellen möchte, sollte sich um präziser Aussagen willen parallel auch mit seinesgleichen austauschen, so wie ich das vordem in „meinen“ Redaktionen praktiziert hatte. Denn ich sah die Gefahr der Voreingenommenheit gegenüber neuen Entwicklungen. Folglich war mir der Kontakt zu aktiven Kolleginnen und Kollegen, vor allem zu jüngeren, wichtig. Von ihnen erhoffte ich mir Anregungen. Doch exakt an dieser Erwartungshaltung droht mein Optimismus jetzt zu scheitern.

Es scheint mir so, als dass im journalistischen Alltag die Neugierde und der Drang zum investigativen Nachhaken vielfach verloren gegangen sind. Möglicherweise, ohne bei den Betroffenen darüber Nachdenken oder Protest hervorzurufen. Der Alltag setzt anscheinend Normen, die kaum noch zur Disposition gestellt werden.

 

Das alles ist im Kern nicht neu. Auch meine Generation war mit Ähnlichem häufig konfrontiert. Erwünscht waren Tatsachenberichte, ohne darin Fragen nach den Ursachen von bedenklichen bis negativen Entwicklungen zu stellen. Kommentare sollten die Situation der Betroffenen illustrieren, die zu den Verhältnissen nichts beigetragen haben, außer, dass sie bei Wahlen womöglich regelmäßig gegen ihre eigenen Interessen stimmen. Immerhin haben wir öffentlich beklagt, dass das Credo unserer Verlagsgruppe selbst im eigenen Haus nicht mehr ernst genommen wurde. Nämlich denen eine Stimme zu geben, die kaum Möglichkeiten haben, ihre eigene vernehmbar erheben zu können.

 

Es ist nicht auszuschließen, dass die nachgewachsene Generation exakt davor Angst hat. Aber ist das sich Abfinden eine Lösung? Wer dagegen nicht zu revoltieren wagt, sollte die List erwägen. Sie hat sich als Kampftechnik der Schwachen bewährt.

 

 

Was sind Ihre drei Voraussagen für das Jahr 2023?

 

Wenn ich mir was wünschen dürfte, dann das Eintreten dieser erträumten Prognosen:

Berlin, 15. April 2023: Zur Behebung der strukturellen Energiekrise sowie zur Abwendung einer Klimakatastrophe im Rahmen einer ökologischen Zeitenwende passt der Deutsche Bundestag das Straßenverkehrsrecht mit Wirkung vom 1. Juni 2023 den objektiv notwendigen Erfordernissen an. Zu den Maßnahmen zählen eine Höchstgeschwindigkeit von generell 30 km/h innerstädtisch, von 80 km/h auf Bundes- und Landstraßen (LKW 65 km/h) sowie auf Autobahnen 120 km/h (LKW 80 km/h). Sogenannte SUV und Kleintransporter werden den LKW gleichgestellt. E-Rollern wird die Betriebsgenehmigung entzogen. Verstöße gegen diese Gesetze werden nicht mehr nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz, sondern nach dem entsprechend geänderten Strafgesetzbuch geahndet.

 

 

Die Staatsanwaltschaft beim Internationalen Gerichtshof in Den Hag hat am 1. Juli 2023 Anklage gegen den abgesetzten Präsidenten der ehemaligen Russischen Föderation, Wladimir Putin, sowie gegen sämtliche Mitglieder seiner Regierung und gegen Mandatsträger der Partei „Einiges Russland“ sowie gegen die Abgeordneten der bisherigen russischen Staatsduma erhoben. Allen Angeklagten, die in mehreren Gefängnissen der EU inhaftiert sind, werden wegen des Angriffskriegs gegen die Ukraine Verstöße gegen das Völkerstrafrecht sowie gegen die Charta der UN zur Last gelegt. Sie müssen mit einer 15- bis 30-jährigen Haftstrafe rechnen.
Die nach dem Aufstand vom 5. Mai 2023 gebildete Regierung der Demokratischen Republik Russland hat ihrerseits in der neuen Hauptstadt Petersburg einen nationalen Gerichtshof zur Verfolgung der während der Putin-Ära begangenen Straftaten installiert.

 

 

Am 31. Oktober 2023 erklärt Bundeskanzler Olaf Scholz vor dem Deutschen Bundestag den intellektuellen Notstand der Republik und fordert die gesamte Bevölkerung auf, das verstehende Lesen, das aussagefähige Schreiben und generell ein vom Verstand geleitetes Denken neu zu lernen. Die Kultusministerkonferenz würde die Lehrpläne der Schulen entsprechend anpassen. Andernfalls würde Deutschland bereits kurzfristig von der Entwicklung in nahezu allen Nachbarländern abgehängt – sozial, wissenschaftlich, kulturell und wirtschaftlich. Als Ursache dieser Missstände habe die Bundesregierung die exzessive und völlig unkritische Nutzung von Social Media, vor allem in der Bevölkerungsgruppe der 14- bis 40-Jährigen, ausgemacht. Als weitere begleitende Maßnahme sei die Bereitstellung von Accounts durch kommerzielle Netzwerke mit Wirkung vom 1.1.2024 umsatzsteuerpflichtig, denn diese seien Teil eines weltumspannenden Datenhandels.

 

Wer gute Vorsätze hat, kann verlieren

Die sogenannten guten Vorsätze weisen geistesgeschichtlich eine Verwandtschaft auf mit dem jüdischen und christlichen Entschluss zur Umkehr. Das zugrundeliegende altgriechische Wort lautet Metanoia. Es wird auch im Sinn von Umdenken und bei Christen auch als Buße verstanden. Meine Quelle ist die Fachenzyklopädie „Religion in Geschichte und Gegenwart RGG“. Das Charakteristische an Umdenken und Umkehr ist, dass sie hier, jetzt und für das gesamte restliche Leben vollzogen wird. Selbstverständlich kann ein Scheitern nicht ausgeschlossen werden.

 

Von diesen Prämissen ausgehend, kann ich mir einen temporären Arbeitsmittelpunkt in einer Lieblingsgegend (z.B. im südwestfranzösischen Angoulême, der Balzac-Stadt) nicht vorstellen. Entweder würde ich das alte Ich lediglich vorübergehend in eine neue Umgebung exportieren, dann wäre es auf Dauer keine qualitative Veränderung, vielmehr bestünde die Gefahr, dass es zur Spaltung meiner Person und meines Bewusstseins führte. Oder ich würde es hinter mir lassen und am Ort meiner Träume und Wünsche ein Neuer sein, mutmaßlich mit neuen Arbeitsinhalten, zumindest würde ich konsequenter arbeiten als bislang, ohne jegliche (Rück-)Bindung (religare) an das alte Leben.

 

Vor mehr als 50 Jahren habe ich mich intensiv mit der Dialektik im China Mao Tse-Tungs beschäftigt, von der die kleine rote Mao-Bibel durchdrungen war. Bei der Lektüre lernte ich, dass das chinesische Wort für Revolution ((„ko-ming“) im Deutschen „den Auftrag ändern“ bedeutet. Das klang und klingt für mich sehr nach Umkehr, Umkehr hier und heute. Und nicht nach guten Vorsätzen, die am St. Nimmerleinstag eingelöst werden können.

 

Welche Rolle spielt Familie an Weihnachten 2022?
 

Weihnachten klopft an meine Tür an, als käme es aus einer Parallelwelt, die gleichermaßen nah und fern ist. Nah, weil die Anbiederung permanent und auf süßliche Weise erfolgt. Fern, weil es sich von meinem Leben so diametral unterscheidet. Offensichtlich gibt es Zugänge, wo die Eintrittsgebühr zu dieser für mich irrealen Wirklichkeit entrichtet werden kann. Die Billetts sind eine Art diskrete Generalzustimmung. Wer ja sagt, erkennt Weihnachtsbäume, Weihnachtslichter, Weihnachtsmänner, Weihnachtsmärkte, Weihnachtslieder, Weihnachtsgeschenke und Landschaften, die im Schnee versinken, als Ersatz für das richtige Leben an.

 

Die christliche Theologie kann Weihnachten nicht begründen und muss es als Ausdruck nichtreflektierender Volksfrömmigkeit stehen lassen. Etwa als Ersatz für Nächstenliebe. Würden die Kirchen diese ernsthaft predigen und ihren Gemeinden zunächst Wissen abfordern und erst dann den Glauben (so der Theologe Rudolf Bultmann), wäre es womöglich mit der Gemütlichkeit vorbei.

 

Der Evangelist Lukas, der die schöne Geschichte vom Stall in Bethlehem, dem Kind in der Krippe, den Hirten auf den Feldern und den Königen aus dem Morgenland erzählt, schreibt auch: „Meinet ihr, dass ich hergekommen bin, Frieden zu bringen auf Erden? Ich sage: Nein, sondern Zwietracht“ (Kapitel 12, Vers 51). Ein Streitgespräch um die Zukunft der Menschheit läge schon eher auf der Linie, die meine Frau und ich sowie unsere zahlreichen Freunde (weiblich und männlich) verfolgen. Allerdings wäre eine säkulare „Heilige Nacht“ dazu geeigneter. Also lassen wir Weihnachten links oder rechts liegen.

Übrigens: Im Ruhrgebiet, meiner Heimat, werden Männer, denen man nicht vertraut, weil sie ihr Fähnchen nach dem Wind richten, als Weihnachtsmann (Weihnachtsmänner) bezeichnet.

 

Klaus Philipp Mertens ist Mitherausgeber von "BRÜCKE unter dem MAIN - Frankfurter Netzzeitschrift"