Das kritische Tagebuch

Leoparden sind gefährlich

Sie können Putin zurückdrängen

Leopard-Kampfpanzer 2A6 auf einem polnischen Übungsplatz © Polnisches Verteidigungsministerium 2015

 

In den Leserbriefspalten deutscher Zeitungen tobt ein Kampf zwischen Befürwortern und Gegnern von Waffenlieferungen an die Ukraine. Bei einem großen Teil dieser Lesermeinungen vermisse ich ausreichende Sachkenntnis und Analysefähigkeit. Ich will meine Sicht auf die Dinge an typischen Beispielen illustrieren.

 

Selbst wenn manche Äußerungen von ukrainischen Vizeaußenminister Andrij Melnyk, der bis Oktober 2022 Botschafter seines Landes in Deutschland war, von einem möglicherweise unreflektierten Nationalismus geprägt scheinen, so sind es doch Reaktionen auf die Vernichtungsstrategie des Putin-Regimes. Denn dieses spricht den Menschen in der Ukraine die Existenzberechtigung ab. Die Zerstörung von Wohnhäusern, Schulen, Krankenhäusern und der Infrastruktur sowie die Übergriffe russischer Soldaten auf Zivilisten lassen keine Spielräume für diplomatisches Abwägen.
 

Der Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjet Union hat dort ähnliche Reaktionen hervorgerufen. Mit der Proklamation des „Großen vaterländischen Kriegs“ durch Stalin konnte der Diktator von seinen „Säuberungen“ ablenken. Denn Hitlers Ziel, das riesige Land in ein Territorium der „verbrannten Erde“ zu zerbomben, erschien damals den meisten Menschen als die noch größere Katastrophe. Damals spürten die Menschen, dass es um Leben oder Überleben ging. Wehrmacht und SS ließen ihnen keine andere Wahl. Heute ist die Situation ähnlich.
 

Putin hat seinen Angriffskrieg von Anfang an mit Drohgebärden gegen die westlichen Demokratien begleitet und sich deren Einmischung verbeten. Andernfalls könnte Russlands mit nuklearen Gegenschlägen gegen NATO-Staaten antworten.
 

Mit solch einem Menschenverächter soll über Frieden und eine neue Friedensordnung verhandelt werden, nachdem er die bisherige gebrochen hatte, obwohl die Russische Föderation nicht bedroht wurde?

 

Nein, der Westen hätte sogar unverzüglich die Ukraine mit modernen Waffen ausrüsten und dem Regime klarmachen sollen, dass die demokratischen Staaten und die Ukraine die Deutungshoheit über den Angriffskrieg beanspruchen und selbst die roten Linien setzen. Die Devise hätte lauten müssen: Schießen (lassen), die russische Opposition unterstützen (gegebenenfalls auch durch internationale Brigaden nach dem Vorbild des spanischen Bürgerkriegs) und jederzeit zu weiteren Maßnahmen bereit sein.
 

Auch die in Leserbriefen mehrfach geäußerten Wünsche wie der nach einer Neutralisierung der Ukraine würden letztlich den Moskauer Machthaben in die Hände spielen. Wenn die Ukraine darin keine Zukunft für sich sieht (und das ist nach dem aktuellen Stand der Dinge so), darf man ihr eine solche Ordnung auch nicht aufzwingen. Verweise auf die frühen 1950er Jahre, etwa Stalins Note an Adenauer, sind ungeeignet. Weder der Osten noch der Westen wollten ein vereinigtes Deutschland, auch falls dieses sich zur Neutralität verpflichten sollte. Mutmaßlich wäre es eine instabile Übergangslösung gewesen. Dass für Österreich eine solche gefunden wurde, ist völlig anderen Überlegungen zu verdanken. Nicht zuletzt solchen, die das Land als Brücke zur traditionell neutralen Schweiz sahen und sehen.
 

Auch die immer wieder von Teilen der deutschen Bevölkerung getroffene Unterscheidung zwischen Angriffs- und Verteidigungswaffen führt in die Irre. Mit dem von Deutschland gelieferten Flugabwehrsystem Iris-T SLM kann man 40 Kilometer weit ins Land schießen – und 20 km in die Höhe. Die Panzerhaubitze 2000 vermag mit Spezialmunition Ziele in über 50 km Entfernung präzise zu treffen. Ebenso erreicht der Raketenwerfer MARS 2 noch feindliche Stützpunkte, die sich 80 km entfernt befinden. Würde man all diese entlang der Kampflinien im Donbass aufstellen, wäre die gesamte russische Grenzregion beherrschbar. Westliche Kampfflugzeuge, die im Raum Kiew stationiert würden, wären in der Lage, das ukrainische Territorium zu schützen. Aber sie könnten auch weit nach Russland eindringen. Kriegswaffen sind tendenziell unbegrenzt einzusetzen, darüber muss man sich klar sein.

 

Der Frieden in Europa wird durch das Putin-Regime bedroht. Vor 84 Jahren war Nazi-Deutschland der Aggressor. Mit Hitler hätte es keinen Verhandlungsfrieden gegeben, weil er und seine Kamarilla bis kurz vor dem Ende auf ihren Eroberungen beharrten. Genauso wenig wird sich Putin auf einen solchen einlassen; denn damit wäre sein Traum von einem neuen Zarenreich endgültig ausgeträumt.

 

 

Klaus Philipp Mertens