Das kritische Tagebuch

Kunst ist nie unpolitisch

Hält sie sich aus dem Diskurs heraus, unterstützt sie die herrschenden Verhältnisse

Marina Owsjannikowa mit Begleiter nach der ersten Gerichtsverhandlung © ARD

Als Distanzierungswahnsinn bezeichnet der Filmproduzent Günter Rohrbach die im demokratischen Europa verbreitete Erwartung, dass sich russische Künstler von Putin und dessen verbrecherischer Clique distanzieren. Er veröffentlichte seine Sicht der Dinge am 14. März in der „Süddeutschen Zeitung“. Diese belegt dadurch erneut, dass sie auch ein Forum für Unsägliches ist. So machte etwa der Musikkritiker Helmut Mauró Schlagzeilen, als er am 16.10.2020 in eben diesem Blatt den Pianisten Igor Levit diffamierte, indem er dessen politisches Engagement, das vor allem ein Kampf gegen Antisemitismus ist, als Ausdruck einer nachlassenden künstlerischen Qualität bezeichnete („Igor Levit ist müde“). Statt zu Virtuosität am Klavier sei er nur noch zu Marketingaktionen fähig.
Die SZ-Chefredaktion entschuldigte sich erst mit Verspätung von diesem Pamphlet und verfestigte dadurch den Eindruck, dass diese einst angesehene Zeitung mittlerweile ein Abstellgleis für Publizisten geworden sei, die den Zeitpunkt eines ehrenvollen Abschieds verpasst hätten.
 

Der einst erfolgreiche Günter Rohrbach, der mittlerweile auf allzu Seichtes („Pubertier“, „Hotel Lux“) abonniert zu sein scheint, verwechselt in seiner Empörung die logischen Ebenen, wenn er die Gastspiele Wilhelm Furtwänglers in der Schweiz nach 1945 mit der Tätigkeit von Valeri Gergijew vergleicht. Furtwängler setzte sich in der ersten Zeit nach der Machtergreifung der Nazis für jüdische Künstler ein. Später jedoch unterwarf er sich der NS-Rassen- und Kulturpolitik, was ihm den Ruf eines Opportunisten einbrachte.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs durfte er in der amerikanischen und französischen Zone bis 1947 nicht auftreten. Als nicht zu rechtfertigen erschien den Siegern seine unkritische bis befürwortende Nähe zu den Zielen des verbrecherischen Systems. Seine späteren Auftritte, darunter auch die in der Schweiz, fanden häufig vor einem Publikum statt, das zu selten die Frage nach dem Anstand stellte, der von Künstlern gegenüber Gewaltherrschern erwartet werden kann. Vielfach beteuerten die, welche Furtwängler entschuldigten, sie hätten sich selbst in die „innere Emigration“ zurückgezogen. Zugegeben: Nur wenige hatten eine Wahl. Erich Kästner beispielsweise hatte keine. Werner Bergengruen, Hans Carossa oder Albrecht Goes hingegen schon. Sie emigrierten in die aktive Unterstützung des Systems, wie ihre Veröffentlichungen aus diesen 12 Jahren belegen. Mutmaßlich deswegen muss sie die Radioansprache Thomas Manns vom März 1941 peinlich berührt haben - und falls sie sie nicht gehört haben sollten (das Hören von Feindsendern stand unter Strafe) auch nachträglich:
„Es ist die Stimme eines Freundes, eine deutsche Stimme; die Stimme eines Deutschland, das der Welt ein anderes Gesicht zeigte und wieder zeigen wird als die scheußliche Medusen-Maske, die der Hitlerismus ihm aufgeprägt hat. Es ist eine warnende Stimme – euch zu warnen ist der einzige Dienst, den ein Deutscher wie ich euch heute erweisen kann; und ich erfülle diese ernste und tief gefühlte Pflicht, obgleich ich weiß, dass keine Warnung an euch ergehen kann, die euch nicht längst vertraut, nicht längst in eurem eigenen, im Grunde nicht zu betrügenden Wesen und Gewissen lebendig wäre."
 

Angesichts von bewusst bombardierten Wohnhäusern, Schulen und Kliniken in der Ukraine hätte die deutsche und internationale Kulturszene von Valeri Gergijew etwas ähnliches erwartet. Auch von Anna Netrebko. Die Journalistin Marina Owsjannikowa hingegen, die von ihrem Gewissenskonflikt deutlich gekennzeichnet ist, hat im russischen Staatsfernsehen mit dem Mut der Verzweiflung ein Plakat hochgehalten und die Menschen auf die Verlogenheiten und Mordtaten der Putin-Bande aufmerksam gemacht.
 

Sie und viele andere Russinnen und Russen machen deutlich, dass es auch ein anderes Russland gibt, ein Russland des Friedens, der Menschenrechte und nicht zuletzt der Kultur. So wie meine Nachbarin Janina, die vor fünf Jahren aus Moskau nach Frankfurt gezogen war. Sie übersetzt meine Texte, die in „Weltexpresso“, in der „BRÜCKE unter dem MAIN“ oder im Newsletter der Literaturinitiative „PRO LESEN“ zum Angriffskrieg auf die Ukraine erscheinen und schickt sie zu ihren Freunden nach Russland mit der Bitte, diese zu verteilen.
Möglicherweise gelangen einige Aufrufe auch den russischen Olympioniken und ihren Unterstützern zur Kenntnis, die an den Spielen in China nicht teilnehmen konnten, weil ihr Land in der Ukraine elementare Menschenrechte missachtet. Wenn Günter Rohrbach die verweigerte Teilnahme für anstößig hält, über die Gründe aber kein Wort verliert, muss er sich sagen lassen, dass er die gemeinsamen Überzeugungen aller Humanisten anscheinend verlassen hat.
 

Angesichts der Unterstützung, die Wladimir Putin durch den russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. erhält, frage ich mich zudem, wie viele Menschen, Russen und Ukrainer, noch sterben müssen, bevor den 100 Millionen Christen Russlands das Gewissen schlägt. Denn es hat nichts mit Denunzierung Andersdenkender oder gar mit Hexenverbrennung zu tun, wenn ein Christ sich gemäß den biblischen Offenbarungen zwischen Gut und Böse, Leben und Tod entscheiden soll und dabei das Gute und das Leben wählt. In Deuteronomium, Kapitel 30, Vers 19 kann man es nachlesen.
 

Wir haben uns zu entscheiden, wo wir stehen, gegen wen wir stehen und wen und was wir bekämpfen. Unabhängig davon, ob wir sozialistisch, religiös, gottlos oder einfach human gesinnt sind. Es gibt keinen Umweg, der uns am Weltgeschehen vorbeiführen könnte. Denn wir sind an diesem Geschehen beteiligt, auch dann, wenn wir selbst nicht eingreifen können. Aber wir haben immer die Möglichkeit, unsere Stimmen zu erheben für die, die sich nicht mehr zu Wort melden können, weil ihnen die Teilhabe verwehrt wird.
 

 

Klaus Philipp Mertens