Das kritische Tagebuch

Kakerlaken in Minsk

Das Regime in Belarus bläst zum letzten Gefecht

© MedienRedaktionsGemeinschaft 2021

Die Opposition in Belarus nennt Aljaksandr Lukaschenka „die Kakerlake“. Dessen Anordnung, ein Passagierflugzeug, das sich auf direktem Weg von Athen nach Vilnius befand, vom Kurs abzudrängen und zur Landung zu zwingen, war eine Kriegserklärung. Der Diktator hat mit dieser Gewalttat sowohl der zivilen Luftfahrt als auch der Europäischen Union den Fehdehandschuh hingeworfen. Denn die vorgeschobene Bombendrohung war eine Täuschung. Hätte es sie tatsächlich gegeben, wäre der Flughafen in Vilnius der nächstliegende für eine Evakuierung gewesen – nicht aber der in Minsk. Anlass für den Piratenakt war ganz offensichtlich die Absicht, sich des Regimegegners Roman Protasewitsch zu bemächtigen. Er und seine Freundin wurden festgenommen.
 

Die Antwort der Europäischen Union auf den Terrorakt ließ nicht lange auf sich warten. Schließlich waren einige ihrer Bürger davon betroffen. Ab sofort dürfen Airlines aus der EU weder Belarus ansteuern noch das Land überfliegen. Ebenso ist der belarusischen Staatslinie das Anfliegen von Zielen in der Gemeinschaft verboten. Als wenig wirksam dürften sich auch weiterhin die bestehenden wirtschaftlichen Sanktionen erweisen. Denn die ehemalige Sowjetrepublik hat sich auf Gedeih und Verderb wirtschaftlich an Russland gebunden. Die Unterbindung des Luftverkehrs könnte hingegen wirkungsvoller sein. Allerdings versperrt diese Maßnahme Oppositionellen den letzten Fluchtweg.
 

Die Menschen in Belarus bezeichnen diese Restriktionen mehrheitlich als richtigen Schritt – soweit sie sich äußern können bzw. wollen. Andererseits stellen sich viele auch die Frage nach der Sicherheit all jener, die in Belarus nach wie vor zum Widerstand aufrufen sowie Freiheit und Leben riskieren. Verbleiben ihnen noch Möglichkeiten, das Land zu verlassen? Ohnehin sind die Grenzen seit dem Jahresende 2020 nominell geschlossen. Als Begründung wurde damals die Corona-Pandemie genannt. Der Flughafen in Minsk war die letzte, wenn auch formal illegale, Möglichkeit, Belarus zu verlassen. Dieser Ausweg ist nunmehr endgültig versperrt.

 

Die bereits erlassenen wirtschaftlichen Sanktionen richten sich bewusst gegen die politische Elite. Diese verfügt jedoch noch über ausreichend Möglichkeiten, ihr Vermögen in das dafür infrage kommende Ausland zu transferieren. Und damit ist nicht nur Russland gemeint. Auch in der Bundesrepublik werden Oligarchen aus dem gesamten Gebiet der früheren Sowjetunion von Investoren angelockt. Würde der Westen zusätzlich den Mittelbau des Systems sanktionieren, könnte Unruhe entstehen. Hierfür kämen beispielsweise die Mitglieder der Wahlkommission in Betracht. Diese stellen eine Gruppe von einigen Zehntausend Stützen des Systems dar. Zwar genießen sie lediglich geringe Privilegien und ihre Bankguthaben dürften überschaubar sein. Aber sie könnten verunsichert werden. Ob solche Irritationen und Verärgerungen aber ausreichten, um die Basis der Opposition zu vergrößern, ist nicht abzuschätzen.
 

Es ist deswegen davon auszugehen, dass die EU mit der Sperrung des belarusischen Luftraums vorrangig ihre eigenen Bürger schützen will. Der Journalist Roman Protasewitsch genoss faktisch die Rechte eines EU-Bürgers, denn er arbeitete längst nicht mehr in Belarus. Ihm drohen in der Haft vermutlich Misshandlungen, insbesondere lebensbedrohende Folter und möglicherweise sogar in einem Schauprozess die Todesstrafe. Das Video, das am Tag nach seiner Festnahme veröffentlich wurde, zeigt einen Menschen, der massiv geschlagen wurde und der ständig Drohungen ausgesetzt ist. Denn sonst hätte er sich nicht schuldig bekannt, Proteste organisiert zu haben. Es ist zu vermuten, dass die im Video gezeigten Äußerungen seiner Freundin mit Gewalt erpresst wurden. Proteste und Demonstrationen zählen zu den elementaren demokratischen Rechten – und diese und andere werden der belorusischen Bevölkerung vorenthalten. Die verhängten Sanktionen werden die Lage der Inhaftierten vermutlich nicht verbessern. Ebenso wenig die Forderung nach ihrer sofortigen Freilassung. Es gibt derzeit mehr als 400 politische Gefangene in Belarus. Auch deren Freilassung wird von westlichen Regierungen regelmäßig gefordert – und diese Forderungen blieben erfolglos.
 

Eine Spur von berechtigter Hoffnung könnte hingegen dieses Kalkül bieten: Belarus kassiert für die Überflugsrechte Gebühren. Die werden jetzt fehlen. Ebenso muss die staatliche Fluggesellschaft Belavia mit Verlusten rechnen. Denn sie darf auf EU-Flughäfen weder landen noch starten. Doch reicht das aus, um Aljaksandr Lukaschenka zu entmachten?
 

Der Diktator, der sich gern mit einer Kalaschnikow in der Öffentlichkeit zeigt und sich dadurch als Gewaltanhänger zu erkennen gibt, hat durch das Kapern des Flugzeugs die EU herausgefordert – und zwar in ihrem Grundverständnis von Menschenwürde und vom gegenseitigen Umgang der Nationen. Darum sollte die Gemeinschaft nicht mit gleicher Münze zurückzahlen, denn andernfalls würde man dem Unterdrücker die Wahl der Mittel überlassen. Vielmehr müssten ihre weiteren Maßnahmen von rationalen Überlegungen geprägt sein. Und von der Absicht, nicht das Leben derer zu gefährden, die man eigentlich schützen will.
 

Ein autoritäres Regime ist üblicherweise auf lückenlose Information über das Denken, Tun und Handeln seiner Bürger angewiesen. Dieses Ausspionieren vollzieht sich längst in digitalisierter Weise. Und das gilt auch für die Information innerhalb der Befehlsstellen und Kader. Fällt die Elektronik aus, weil sie beispielsweise von außen manipuliert wird, ließen sich die Schlägerkommandos nicht mehr führen und koordinieren. Sie wären zwar noch dazu in der Lage, loszuschlagen. Doch auf wen, wo und wann? Auf welchen Wegen sollte die Obrigkeit noch ihre Befehle übermitteln, wenn die Kanäle gestört sind? Lukaschenka würde nie einer Truppe vorangehen, schon gar nicht an vorderster Front sein Leben riskieren. Er delegiert das Niederknüppeln und Morden und bestimmt, wer Gegner und Opfer ist.
 

Russland und China haben vorgemacht, wie man mittels Internetrobotern falsche Fakten lancieren kann, um Meinungsbildungsprozesse in demokratischen Gesellschaften zu beeinflussen. Selbst das Eindringen (Hacken) in wichtige Informationszentren und in elektronisch gesteuerte Kernbereiche der Infrastruktur ist möglich geworden. Das ist zum einen dem Leichtsinn der Verantwortlichen geschuldet, zum anderen den immensen Kosten für ein sicheres Netz. EU und USA verfügen mit ihren digitalen Equipments über eine Technologie, welche die Kommunikation in autoritären Regimen entscheidend stören könnte. Wer Drohnen punktgenau manövrieren oder die Ziele von Bomben und Raketen über weite Entfernungen hin exakt anpeilen kann, wird in die Binnenkommunikation eines Landes eingreifen können. Zumal in die eines Landes, das technologisch unterentwickelt ist.
Wenn die „Kakerlake“ einen Schießbefehlt erteilt, der aber nirgendwo ankäme, bräche das System wie ein Kartenhaus zusammen. Die Entführung des Flugzeugs verleiht der EU das Recht zum Handeln. Und sie sollte im Namen der vielen Opfer und Inhaftieren unverzüglich handeln.

 

K.P.M.