Der Vorwurf des Antisemitismus, den eine in Frankfurt lehrende israelische Professorin gegen eine Moderatorin des HR erhebt, trifft ins Mark des Senders. Während der Tonprobe zu einem Interview fragte die Redakteurin die Wissenschaftlerin, wo deren Vorname herkommt. Die antwortet kurz und bündig mit „Israel“. Daraufhin soll die Redakteurin „Bäh“ gesagt und die Zunge herausgestreckt haben.
Die Anschuldigung, sollte sie den Tatsachen entsprechen, stellt sowohl das demokratische Selbstverständnis als auch die fachliche Kompetenz des Senders infrage. Deswegen ist die Beauftragung einer Anwaltskanzlei der denkbar schlechteste Weg, um diese Sache aufzuklären und zeugt von Hilflosigkeit.
Denn Letztere handelt im Auftrag eines Beteiligten und ist keine Instanz, die über den Dingen steht. Im journalistischen Alltag würde kein seriöser Sender auf die Idee kommen, Gegenrecherchen ausgerechnet dort anzustellen, wo keine gesicherten Ergebnisse zu erwarten sind. Hier ist gemäß publizistischer Ethik immer die Aussage eines klassischen Zeugen, also des unbeteiligten Dritten, notwendig. Zumindest einige Angehörige der Leitungsebene des Hessischen Rundfunks scheinen mit diesem Handwerkszeug nicht vertraut zu sein.
Diesen Eindruck gewann ich bereits mehrmals, als ich in Zuschriften an den HR darauf hinwies, dass der von Redakteuren der „Hessenschau“-Internetausgabe verwendete Ausdruck „Kulturschaffende“ (statt Künstler, Schriftsteller, Maler, Bildhauer etc.) aus der Giftküche eines Joseph Goebbels stammt und faktisch ein Derivat des NS-Schlagworts „Arbeiter der Stirn und der Faust“ ist.
Die Journalisten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind wiesen bereits 1945 in der Artikelserie „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ darauf hin. Die Buchausgabe des „Wörterbuchs“ gehörte ab 1957 zu den Standardwerken in der Journalistenausbildung. Nach meinem Eindruck werden seit der von Ministerpräsident Koch betriebenen Zeitenwende beim HR unbedenklich auch politisch-toxische Begriffe gebraucht.
Der Sender hat mir nie geantwortet. Ganz im Gegensatz zur Redaktion der „Tagesschau“, bei der ich die Verwendung dieses Unworts ebenfalls anprangerte. Diese entschuldigte sich bei mir schriftlich.
Der von den HR-Anwälten vorgelegte Untersuchungsbericht, zumindest der veröffentlichte Teil, hält den Anforderungen an einen solchen nicht stand. Abgesehen von der Beauftragung durch den Sender, die Zweifel an der Unabhängigkeit begründet, ist auch die Methodik zu kritisieren.
Wenn die befragten 33 HR-Mitarbeiter allenfalls ein „ah“, ein „aha“ oder ein „mmh“ gehört haben wollen, keinesfalls aber ein „Bäh“, lassen diese Aussagen den Schluss zu, dass der Hinweis auf den Ursprung des Vornamens, also auf Israel, von der Redakteurin kommentiert wurde – und zwar mit einem Laut, den jeder der Befragten anders verstanden hat. Bemerkenswert ist zudem, dass die Redakteurin nicht nachgefragt hat. Beispielsweise, aus welcher Stadt Israels Frau Schulmann stammt. Also eine Freundlichkeit, die Interesse an der Interviewpartnerin hätte vermitteln können und Anknüpfungspunkte für das eigentliche Interview bot. Dass sich die Moderatorin mehrfach mit der Zunge über die Unterlippe gestrichen hat (aber nicht die Zunge herausgestreckt haben will), wirkt absolut unprofessionell. So reagiert jemand, der sich nicht im Griff hat.
In der Sprache „furchtbarer Juristen“ (Rolf Hochhuth) fordert der HR nunmehr Frau Schulmann auf, den Vorwurf fallenzulassen und diesbezügliche Schilderungen nicht mehr zu verbreiten. Darüber hinaus wird ihr untersagt, im Zusammenhang mit ihrem Vorwurf allgemeine Betrachtungen über diskriminierende Äußerungen in der Gesellschaft und die Folgen für deren Opfer anzustellen.
Dieses Verhalten erklärt sich selbst und dokumentiert den geistigen Zustand des Senders. Statt Klarheit zu verschaffen, nicht zuletzt im Interesse der angeschuldigten Redakteurin, entsteht der Eindruck, dass etwas nicht die Öffentlichkeit erreichen soll. Möglicherweise ist das gar kein leichtfertig artikulierter Antisemitismus. Vielleicht geht es um die innere Organisation des Hessischen Rundfunks. Ist sie von Verantwortungsdiffusion geprägt? Produziert der Spardruck, der von der Politik auf den Sender ausgeübt wird, Verdruss und führt zu einem Niveauverlust in den Redaktionen?
© Redaktion ProLesen Frankfurt a.M. / 2025
Klaus Philipp Mertens