Das kritische Tagebuch

Fachkundiger Finanzminister gesucht

Die Bundesregierung sollte das Amt des Bilanzbuchhalters neu besetzen

 

Die Berliner Regierungskoalition gerät immer wieder ins Schlingern, weil ein Querulant aus den eigenen Reihen die vielfach solide Politik in Misskredit bringt. Schließlich muss die Ampel Antworten auf sämtliche Fragen finden, die durch das Beziehungsgeflecht Energie – Umwelt - Klima, durch Digitalisierung und den russischen Überfall auf die Ukraine aufgeworfen werden. Es geht dabei um die sogenannten Staatsschulden. Also um die Differenz zwischen Steueraufkommen und objektiv notwendigen Ausgaben. Dabei gebärden sich die Gegner der Staatsverschuldung einerseits als Steuervermeider und andererseits als Krämerseelen. Sie offenbaren eine Überzeugung, die sich von der seriösen Ökonomie entfernt hat. Den Sparfanatikern zufolge sei der Staat so etwas wie ein Krämerladen, bei dem abends die Kasse stimmen müsse. Das ist zwar infantil und völlig unwissenschaftlich, aber den Bildungsfernen gefällt es.
 

Hierzu passt diese Dauerepisode: Bundesfinanzminister Christian Lindner meldet sich in der Diskussion über den Bundeshaushalt 2025 sowie die Schuldenbremse regelmäßig mit einem Satz zu Wort, den er anscheinend für klug hält: Der Staat habe kein Einnahme-, sondern ein Ausgabeproblem. Diese Phrase wird nicht durch Tatsachen gedeckt. Denn der Investitionsbedarf z.B. bei Deutscher Bahn, dem Ausbau des Energienetzes, der Digitalisierung der Verwaltung, der Sanierung von Schulen oder der Umstrukturierung von Berufsbildern ist so riesig, dass er unübersehbar ist.
 

Misst man Lindners Worte an den Gesetzen der Sprachlogik, ist die zitierte Äußerung eine ideologische Plattheit, aber keine wahre Aussage. Denn sie bedeutet, dass die Steuern völlig ausreichen würden, um die finanziellen Verpflichtungen des Staats erfüllen zu können. Alles andere, beispielsweise das, was eine gerechte und solidarische Gesellschaft sowie Investitionen in die gesamtwirtschaftliche Zukunft anbelangt, seien keine originären Staatsaufgaben.
 

Diese Weisheiten hat sich der Politologe und Wirtschaftslaie Christian Lindner nicht selbst ausgedacht. Er hat sie unkritisch übernommen von Ökonomen, die einen schwachen Staat und eine starke Privatwirtschaft ohne Verpflichtungen gegenüber Gesellschaft und Staat propagieren und längst auf der letzten Bank der Volkswirtschaftler sitzen. Allen voran die Mitglieder des Walter-Eucken-Instituts an der Freiburger Universität. Dort wird seit 1954 Marktradikalität (Ordoliberalismus) gepredigt – mit Hinweis auf die Verquickung von Staat und Schlüsselwirtschaft im NS-Staat. Der gegenwärtige Leiter, Professor Lars P. Feld, praktiziert das mit freundlicher Beharrlichkeit sowie mit Hilfe eines weit verzweigten Lobbynetzes neoliberaler Organisationen (NOUS, Mont Pelerin Society). Kritische Ökonomen wie Walter Oswalt oder Peter Bofinger werfen dem Institut hingegen vor, die wirklichen Ursachen ökonomischer Macht und deren Gefahren für den heutigen Staat aus dem Blick verloren zu haben. Dennoch lässt sich Christian Lindner von Lars Feld fachlich beraten.
 

Die Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz und Adam Tooze warnten im Oktober 2021 davor, Lindner den Posten des Bundesfinanzministers zu überlassen und kritisierten seine finanzpolitischen Positionen als eine „Anhäufung konservativer Klischees“ einer „vergangenen Ära“, die „nach drei Jahrzehnten der Krise auf den Finanzmärkten, in der Geopolitik [und] im Umweltbereich“ obsolet geworden seien. In die Tat umgesetzt, würden diese eine Gefahr für die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands und Europas darstellen. Zwei Jahre später wiederholte Tooze seine Kritik: Lindner verschlimmere „jetzt unnötig die Zwangslage, indem er in plakativer Weise gegen Schulden Stimmung macht. Woran es fehlt, sind rund 400 Milliarden Euro an Investitionen“.

 

Die fachliche Kompetenz in Finanz- und Wirtschaftsdingen kann bei Christian Lindner auch wegen dessen Fehlentscheidungen als Unternehmer angezweifelt werden. Ende Mai 2000, damals war er FDP-Landtagsabgeordneter in NRW, gründete er zusammen mit Hartmut Knüppel und Christopher Patrick Peterka die Fa. Moomax GmbH, die Internet-Avatare auf den Markt bringen wollte. Ein Jahr war er als Geschäftsführer tätig. Die Geschäftsidee zerschlug sich bereits Ende 2004. Der wirtschaftliche Schaden belief sich auf ca. 2 Millionen Euro.

 

Klaus Philipp Mertens