Das kritische Tagebuch

Die Wahl fällt schwer. Drittes Beispiel: Annalena Baerbock

Eine Jeanne d’Arc der Schrebergärten?

Annalena Baerbock beim ersten Triell der Kanzlerkandidaten © deutschlandfunk.de

Seit fast 50 Jahren wissen wir: Wachstum, wie es bislang verstanden wird, stößt an unüberwindbare Grenzen. Anfang des Jahres 1972 wurde die Studie „Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit“ veröffentlicht. Das renommierte „Massachusetts Institute of Technology (MIT)“ hatte sie im Auftrag des „Club of Rome“ erstellt. Letzterer ist eine gemeinnützige Organisation, der Experten aus mehr als 30 Ländern angehören. Er setzt sich für eine nachhaltige Entwicklung, insbesondere für eine entsprechende industrielle Produktion und eine ebensolche Landwirtschaft ein. Mittlerweile hat er seinen Sitz in Winterthur (Schweiz). 1973 wurde er für die wegweisende Untersuchung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet.
 

Das MIT hatte unter der Leitung von Donella und Dennis Meadows eine Computersimulation durchgeführt, in der fünf reale Szenarien durchgespielt wurden, bei denen globale Auswirkungen zu vermuten waren: Industrialisierung, Bevölkerungswachstum, Unterernährung, Ausbeutung von Rohstoff-Reserven und Zerstörung von Lebensräumen. Die Schlussfolgerung dieser Untersuchung war eindeutig. In der verkürzten Zusammenfassung lautet sie:
„Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.“
 

Der Klarheit des Befunds entspricht auch der Lösungsvorschlag:
 

„Unsere gegenwärtige Situation ist so verwickelt und so sehr Ergebnis vielfältiger menschlicher Bestrebungen, dass keine Kombination rein technischer, wirtschaftlicher oder gesetzlicher Maßnahmen eine wesentliche Besserung bewirken kann. Ganz neue Vorgehensweisen sind erforderlich, um die Menschheit auf Ziele auszurichten, die anstelle weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen. Sie erfordern ein außergewöhnliches Maß von Verständnis, Vorstellungskraft und politischem und moralischem Mut. Wir glauben aber, dass diese Anstrengungen geleistet werden können, und hoffen, dass diese Veröffentlichung dazu beiträgt, die hierfür notwendigen Kräfte zu mobilisieren.“
 

Die westlichen Regierungen haben die Studie damals offiziell begrüßt, aber gleichzeitig betont, dass längst strukturelle Vorkehrungen getroffen worden wären, um die prophezeiten Katastrophen abwenden zu können. Mittlerweile ist nachgewiesen, dass es außer Lippenbekenntnissen keine nennenswerten Maßnahmen gegeben hat und gibt. In den Ländern des Ostblocks wurde der Bericht gar als „feindliche-negative“ Propaganda abgetan, der in keiner Weise den Errungenschaften des Sozialismus entspräche. Spätestens seit der Wende ist bekannt, wie massiv dort gegen ökologische Grundsätze verstoßen wurde.
 

In der Bundesrepublik wurden die Ergebnisse des „Club of Rome“ erst mit mehrjähriger Verspätung diskutiert. Anlass war eine neue Sicht auf die Kernenergie. Die Planung des Atomkraftwerks Wyhl am Kaiserstuhl führte zur ersten Protestwelle, die von Winzern organisierte wurde. Diese Demonstrationen lösten auch Widerstände an anderen Orten aus, wo Kernkraftwerke geplant, in Bau oder schon errichtet waren. Hier sind insbesondere Brokdorf, Brunsbüttel, Grohnde und Unterweser (Esenshamm) zu nennen.
 

1978 gründete der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Gruhl die „Grüne Aktion Zukunft (GAL)“, die 1980 zu den Initiatoren der Grünen wurde, aber eigenständig blieb. Vor allem im norddeutschen Raum aktive Gruppen wie die „Bürgeraktion Küste“, die „Bremer Grüne Liste“ und die „Grün-alternative Liste“ in Hamburg sowie die „Grüne Liste Schleswig-Holstein“ wurden zu Quellen der 1980 gegründeten Grünen, die nach der deutschen Vereinigung mit dem ostdeutschen „Bündnis 90“ die Partei „Bündnis 90 / Die Grünen“ bilden.
 

Die Grünen erhielten auch Verstärkung aus dem rechts-neutralistischen Lager, nämlich von der „Aktionsgemeinschaft unabhängiger Deutscher AUD“, die sich im April 1980 zu Gunsten der Grünen auflöste, nachdem es bereits 1978 in Bayern zu einem Wahlbündnis mit der GAL und 1979 zu engeren Kontakten mit dem „Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz“ um Petra Kelly gekommen war. Prominente AUD-Mitglieder waren Joseph Beuys, Wolf-Dieter Hasenclever (später Vorsitzender der Grünen in Baden-Württemberg, heute Mitglied der FDP), August Haußleiter (später Pressesprecher der Grünen), Herbert Rusche (heute Piratenpartei) und der Landwirt Baldur Springmann, der als junger Mann in mehreren NS-Organisationen aktiv gewesen war und später bei den Grünen einen nationalen Agrar-Kult propagierte.
 

Obwohl sich die Grünen im weiteren Verlauf der 1980er Jahre zunehmend aus Linksabweichlern der SPD sowie Aktivisten der links-autonomen Szene (z.B. Joschka Fischer) sowie aus neuen ökologischen Initiativen speiste und national-konservative Kräfte an Einfluss verloren, tut sich die Partei insgesamt schwer mit einer Abgrenzung zum Kapitalismus. Das verwundert angesichts der Tatsache, dass die Zerstörung der natürlichen Umwelt auf eine Profitwirtschaft zurückzuführen ist, die keine Rücksicht auf ökologische und zivilisatorische Belange nimmt.
 

Diese fehlende Distanz bzw. der notwendige Veränderungswille setzt sich auch fort im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021. Es trägt den Titel „Deutschland. Alles ist drin“. Nach Einschätzung des Co-Vorsitzenden Robert Habeck sei das Papier eine Vitaminspritze für das Land. Und er erläuterte: „Wir wollen einen Aufschwung schaffen, der über das rein Ökonomische hinausgeht. Einen Aufschwung, der das ganze gesellschaftliche Leben in seiner Stärke und Vielfalt erfasst: Bildung und Kultur, Arbeit und Digitalisierung, Spitzenforschung und Wissenschaft.“ Und Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin, ergänzte: „Deutschland kann so viel mehr. Diese Dekade kann ein Jahrzehnt des mutigen Machens und des Gelingens werden. Ein Jahrzehnt des Modernisierens.“ Damit hob sie ab auf einen Passus des Wahlprogramms:

„Wir müssen unsere Wirtschaft auf die Ziele der Klimaneutralität ausrichten und eine Kreislaufwirtschaft etablieren. Den wirtschaftlichen Aufbruch nach der Corona-Krise und die ökologische Modernisierung wollen wir zusammenbringen. Dazu braucht es eine sozial-ökologische Neubegründung unserer Marktwirtschaft.“
 

Wie aber richtet man die Wirtschaft auf Klimaneutralität aus, wenn der Staat von seinen gestalterischen Möglichkeiten keinen Gebrauch machen soll und die Grünen auf die bessere Einsicht der Hauptbeteiligten setzen? Vor allen anderen müssen die Schlüsselunternehmen der verschiedenen Branchen neue Maßstäbe entwickeln. Das bedeutet, dass sie ihre Profitmargen und die Renditeerwartungen der Aktionäre und Gesellschafter ändern müssen. Der kurzfristig erzielbare Ertrag aus kurzlebigen Produkten muss einer langfristigen Nachhaltigkeit weichen. Das Umdenken, also der Abschied vom traditionellen Wachstum, bedeutet faktisch eine Revolution.
 

Der Philosoph Robert Habeck, von dem man erwarten kann, dass er sich mit Kant, Hegel und Marx und deren Staatstheorien eingehend beschäftigt hat, sollte wissen, dass Bewusstsein aus einem permanenten dynamischen Prozess erwächst. Die Befriedigung materieller Bedürfnisse (Produktion und Güterverteilung) spiegelt sich in Kultur, Bildung, demokratischer Freiheit und Solidarität, wobei letztere die Bedürfnisse immer wieder neu definieren. Die ökologische Gesellschaft kann nur als eine neue, andere Gesellschaft realisiert werden. Allem Anschein nach fehlt den Grünen der Mut, dies auch in Wahlkampfzeiten zu bekennen. Ganz zu schweigen von Zeiten, in denen die Partei an Regierungen beteiligt ist und war. Deswegen klingen pauschale Aussagen des Wahlprogramms wie „Konsequent gegen Steuerhinterziehung und -vermeidung vorgehen“ und „Konzerne angemessen besteuern“ bereits nach Vorhaben, deren Umsetzung gar nicht geplant ist.
 

Selbst an vergleichsweise einfach und schnell erreichbare Ziele wagen sich die Grünen nicht heran. Ein konsequentes Umdenken würde das Geflecht der sozialen Sicherung betreffen, beispielsweise eine Bürgerkrankenversicherung für alle. Die wird zwar als Zukunftsprojekt erwähnt, doch zunächst sollen Privatkassen erlaubt bleiben. Das klingt nach einem Schritt vorwärts und zwei Schritte zurück. Eine Bürgerversicherung würde die Einnahmen verbessern und sie ließe es zu, die Ausgaben gerechter und nach medizinischen Notwendigkeiten vorzunehmen. Stattdessen wird von einer kapitalgedeckten Altersvorsorge als sinnvoller Ergänzung der gesetzlichen Rente gefaselt. Was sich als indirekter Freibrief für das gegenwärtige Banken- und Finanzsystem, das „stabiler und nachhaltiger“ gemacht werden soll, entlarvt. Jetzt weiß man endgültig, was Grüne darunter verstehen. Wie es leider zu erwarten war, fehlt auch jedes Wort über ein Verbot der Immobilienspekulation, über einen allenfalls zeitlich eng begrenzten Erwerb von Eigentum an Grund und Boden (Pacht auf 35 Jahre) und die Hinwendung zum ausschließlich gemeinnützigen Wohnungsbau. Damit keine falschen Hoffnungen aufkommen, lautet ein Programmpunkt: „Erwerb von Wohneigentum erleichtern“.
 

Der Bürger einer grünen Zukunft scheint in einer Art Schrebergartenidylle leben zu sollen und sich dabei tendenziell auf den Bewusstseinsstand von vor 1968 zurückzuentwickeln zu müssen. Die extrem spießige Kulisse auf dem Programmparteitag deutete das bereits an. Es fehlten lediglich die Gartenzwerge.
 

Annalena Baerbock fordert zwar unablässig, dass die Politik über sich hinauswachsen müsse. Über den dann notwendigen Mut zu unpopulären Maßnahmen spricht sie jedoch nicht. Die Flutkatastrophe an Ahr und Erft hätte ihr die Gelegenheit gegeben, ein sofortiges Umschalten vehement zu fordern. Denn wenn eine ganze Region buchstäblich in Wassermassen, Schlamm und Geröll versinkt, weil man seit Jahrzehnten verantwortungslos wirtschaftet und über seinen Verhältnissen lebt, ist es höchste Zeit, den Notstand auszurufen und die wenigen verbleibenden Auswege unüberhörbar zu beschreiben. Woanders als dort hätte sie dazu die beste Gelegenheit gehabt und wann hätte sie bessere Chancen gehabt, dass ihr alle zuhören? Selbst bei der ersten TV-Diskussion der Kanzlerkandidaten, dem Triell, ergriff sie nicht die Gelegenheit zur Initiative. So bleibt der Eindruck, dass Annalena Baerbock aus zweiter Hand lebt. Von einer Bundeskanzlerin wird mehr erwartet.

 

"Das kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens