Das kritische Tagebuch

Die Gretchenfrage beim Impfen: Solidarisch mit wem?

Von den Grenzen der Toleranz

Parole von Impfgegnern © deutschlandfunk.de

In der „Frankfurter Rundschau“ fragte der Theatermann Michael Herr angesichts der nachlassenden Impfbereitschaft: „Leute, tickt ihr denn noch richtig?“ Nach meinem Eindruck ticken tatsächlich zu viele völlig falsch. Und es kommt mir so vor, als ginge neben Covid-19 eine zweite Seuche durchs Land. Nämlich die infektiöse Dummheit. Übergesprungen aus den Giftlaboren der Verschwörungsideologen und massiv unterstützt von BILD, Facebook & Co. Auch einige Politiker stimmen parteiübergreifend in die Gesänge vom Untergang ein, selbst solche, von denen man anderes erwartet hätte. Beispielsweise die Co-Vorsitzende der Linken, Susanne Hennig-Wellsow, die sich gegen „Privilegien“ für Geimpfte aussprach. Und sie begründete das mit der Pflicht zum solidarischen Zusammenstehen in der Gesellschaft und mit der Notwendigkeit, aufeinander Rücksicht nehmen zu müssen.

Möglicherweise artikuliert sie damit eine Stimmung, die in Ostdeutschland, dem Kernland der Linken, besonders häufig anzutreffen ist und die bislang vor allem von der AfD aufgegriffen und weiterentfacht wird. Also von jenen, die für Entsolidarisierung, Rücksichtslosigkeit, Verbreitung plattester Dummheit, das Infragestellen von Grundrechten und generell für Inhumanität stehen.

Impfgegner informieren sich nachweislich schlecht und dies vor allem auf obskuren Internetseiten, wo Brandstifter ihre Ideologien propagieren und Verblendete den angelesenen Schwachsinn ohne Murren schlucken.

Angesichts der weltweit wütenden Corona-Pandemie kann es nur ein angemessenes Verhalten geben. Menschen müssen sich impfen lassen. Und es sollten so viele sein, dass die sogenannte Herdenimmunität erreicht wird. Dadurch halten sie das Risiko für Ansteckungen und lebensgefährliche Verläufe extrem niedrig. Verkürzt gesagt: Doppelt Geimpfte schützen sich gegenseitig.

Wer sich solidarisch verhalten und eine gefährliche Krankheit erfolgreich bekämpft hat, darf mit einem Dank der Gesellschaft rechnen. Konkret mit der Lockerung, gar Aufhebung von Beschränkungen, sodass z.B. Restaurant-, Kino- oder Theaterbesuche wieder in einem früher gewohnten Rahmen möglich sind. Das hat nichts mit der Zuerkennung von Sonderrechten zu tun, wie Frau Hennig-Wellsow meint. Vielmehr handelt es sich sowohl um Anerkennung und Motivation zum Weitermachen als auch um einen Erfolgsbeweis. Denn Geimpfte erkranken kaum noch, und falls doch, selten schwer. Zudem sind sie nicht länger Virus-Wirte und tragen deswegen nicht zum Entstehen weiterer Mutanten bei.

Bleibt die Frage, was mit den anderen, den Unsolidarischen, geschehen soll. Sie haben sich aus fadenscheinigen Gründen gegen ein Miteinander entschieden. Sollen sie trotzdem in den Genuss des Fortfalls von Restriktionen kommen, obwohl sie Träger und Verbreiter eines Virus sein können und sie Leben und Gesundheit der anderen offenbar nicht interessiert?

Ich bin der Überzeugung, dass dieses Verhalten nicht belohnt werden darf. Denn das wäre eine Umkehrung aller Werte, wäre eine Hinwendung zur Wertlosigkeit. Aber jedem sollte auch die Chance zur Umkehr eingeräumt werden. Wer sich jetzt doppelt impfen lässt, kann nach der Wartezeit wieder Mitmensch sein.

Das „Ohne mich“ von AfD, Querdenkern und ähnlichen Hasardeuren darf keine gesellschaftlich akzeptierte Verhaltensweise werden. Die an sich begrüßenswerte Toleranz gegenüber Andersdenkenden (wenn es denn tatsächlich Denkende mit moralischen Grundsätzen sind, also keine „Querdenker“) darf nicht in Beliebigkeit umschlagen. Denn diese ist wahllos und willkürlich; sie bedeutet, ein Leben zu führen zu Lasten anderer.

Das "Kritische Tagebuch" führt Klaus Philipp Mertens