Das kritische Tagebuch

Der Mann mit dem gewissen Nichts

Tagebucheintrag vom 17. April 2021

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Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner ist ein eloquenter Nichtssager. Er äußert sich zu jedem Thema, zu dem ihm (bevorzugt) in TV-Talk-Shows und Fernsehinterviews Stichworte genannt werden. Seit einem Jahr nutzt er jede Gelegenheit, sich mit sorgenvoller Miene und gespielter Empathie in die Diskussion über Strategien gegen die Corona-Pandemie einzumischen. Seine Beiträge sind frei von jeglicher Kenntnis in den Bereichen Virologie, Medizin und Gesundheitsökonomie. Da er weder mit der Theorie noch mit der Empirie dieser Wissenschaften vertraut ist, greift er zu unlogischen Vergleichen und Bildern, die als gemeinsamen Nenner das Nichtwissen haben. Um seiner Leichtfüßigkeit dennoch Gewicht zu verleihen, versucht er Analogien zur Rechtsordnung, speziell zum Verfassungsrecht, herzustellen. So drohte er bei „Maybrit Illner“ unverhohlen mit einer Verfassungsbeschwerde gegen die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes.
 

Ich stelle mir vor, Lindner würde irrtümlicherweise zu einem Expertengespräch über naturwissenschaftliche Probleme eingeladen, das aus Mangel anderer Sendeplätze am späten Abend des katholischen Feiertags „Maria Himmelfahrt“ bei „Markus Lanz“ stattfände. Thema wären ungelöste mathematische Probleme. Der Mathematiker David Hilbert hatte solche zu seiner Zeit nicht endgültig bestätigten Lehrsätze auf dem internationalen Mathematikerkongress im Jahr 1900 in Paris vorstellt.
Die zweite dieser insgesamt 23 Fragen lautete: „Sind die arithmetischen Axiome widerspruchsfrei?“
 

Was würde Christian Lindner antworten? Zunächst würde er vor den Gefahren einer rein bürokratischen Herangehensweise warnen. Denn die staatliche Verwaltung hätte solche und ähnliche Herausforderungen entweder noch nie oder nur sehr schlecht gelöst. Der Staat sei kein Problemlöser, stattdessen verursache er selbst die meisten Probleme. Bekanntlich verfügten einzig und allein private Kreative, insbesondere die private Wirtschaft, über das notwendige Instrumentarium zur vollständigen und abschließenden Bewältigung solcher Aufgaben.
Anschließend wäre es sehr wahrscheinlich, dass er an den vermeintlichen Hilferuf einer Schülerin erinnern würde, die vor wenigen Jahren ihre Unkenntnis über betriebswirtschaftliche und steuerrechtliche Zusammenhänge öffentlich beklagt und dafür Beifall aus allen Ecken des dummen Deutschlands erhalten hatte. In der Schule hätte sie zwar gelernt, literarische Texte zu analysieren und seitenlange Abhandlungen darüber zu verfassen, aber das realen Leben fehle im Lehrstoff und würde nicht vermittelt. Diese leichtfertige Selbstentlarvung eines nicht klugen Mädchens wäre die kalkulierte Initialzündung für Lindners Empörung. Warum streiten wir uns über Irrelevantes, würde er sinngemäß und mit beschwörender Gestik die vermutete Zuschauermenge fragen. Und dann selbst die Antwort geben: Die freiheitliche Demokratie erwiese sich auch solchen Anfechtungen gegenüber als überlegen. Letztlich würde auch das Grundgesetz einen Weg weisen. Notfalls seien er und die FDP dazu bereit, diese Sache vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen.
 

Die interessierten Zuschauer würde nie erfahren, dass erst 36 Jahre nach dem Pariser Kongress der Mathematiker Gerhard Gentzen die Widerspruchsfreiheit arithmetischer Axiome mit Hilfe transfiniter Methoden nachweisen sollte.
 

K.P.M.

 

»Das kritische Tagebuch“ und »Meldungen aus der fiktiven Wirklichkeit« vermitteln aus subjektiver Sicht Hintergründe und spekulative Fortschreibungen realer gesellschaftlicher Entwicklungen.