Buchtipp

Entschlüsselte Ukraine

Juri Andruchowytsch‘ Essayband „Das letzte Territorium“

Buchumschlag © Suhrkamp Verlag

Die Ukraine, der zweitgrößte europäische Staat, ist auf unserer literarischen Landkarte nicht einmal in Umrissen vorhanden. Juri Andruchowytsch, der international renommierteste ukrainische Autor, nimmt die begrenzten Kenntnisse seines Publikums in Westeuropa und in den USA ernst und bringt ihm in einer Reihe brillanter Essays diese unbekannte Region nahe. Jeder, der einmal die westliche Staatsgrenze der Ukraine überquert hat, erfährt, dass hier auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer eine Trennlinie verläuft: »zwischen Europa und etwas anderem«. Erfrischend im Ton, farbig im Detail und voller Ironie beschreibt er die postsowjetische Realität seines Landes: Lemberg und Kiew, Spuren des untergegangenen Galiziens und die Katastrophe von Tschernobyl, den Exodus der Bevölkerung Richtung Westen und die repressive Medienpolitik der Regierungen vor 2013, aber auch die sonderbare Existenz von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen in einem Land, »aus dem man weggeht«.

 

Juri Andruchowytsch stammt aus der Westukraine. Sein Essayband „Das letzte Territorium“, der 2003 auf Deutsch erschienen ist, öffnet Zugänge zu einem weithin unbekannten Land.
 

Andruchowytsch geht es vorrangig um die Frühzeit der unabhängigen Ukraine, also der Jahre seit 1992. Dabei scheint er mit eigenen Widersprüchen zu kämpfen. Wie soll er sich zu diesem Vielvölkererbe seiner Region – der Westukraine, Ostgalizien, früher zu Polen gehörig, zur Habsburgermonarchie – verhalten? Stört es ihn vielleicht bei der Ausbildung seines eigenen literarischen ukrainischen Bewusstseins? Er mokiert sich in diesen Texten auch sehr stark über die anderen Teile der Ukraine, also die weiter östlichen gelegenen; streut Zweifel, ob es überhaupt möglich ist, das Projekt einer unabhängigen, demokratischen Ukraine, wie es ihm zu Anfang der 2000er Jahre vorschwebte, mit den östlichen Landesteilen zu realisieren.
 

Diese Überlegungen sind nun zwanzig Jahre alt: Inzwischen ist eine ganze Generation von Ukrainern neu aufgewachsen, es hat die orange Revolution 2004 gegeben, dann den Euro-Maidan 2013 mit der Revolte gegen die Abhängigkeit von Russland und der Hinwendung nach Westeuropa in Kiew. Die Westukraine ist vielleicht in den politischen Umwälzungen gar nicht mehr so wichtig gewesen. Aber gerade das ist interessant – hier noch mal den Kontrast zu erfahren.
 

Juri Andruchowytsch, geboren 1960 in Iwano-Frankiwsk/Westukraine, dem früheren galizischen Stanislau, studierte Journalistik und begann seine schriftstellerische Laufbahn als Lyriker. Außerdem veröffentlicht er Essays und Romane. Andruchowytsch ist einer der bekanntesten europäischen Autoren der Gegenwart, sein Werk erscheint in 20 Sprachen. 1985 war er Mitbegründer der legendären literarischen Performance-Gruppe Bu-Ba-Bu (Burlesk-Balagan-Buffonada). Mit seinen drei Romanen Rekreacij (1992; dt. Karpatenkarneval, 2019), Moscoviada (1993, dt. Ausgabe 2006), Perverzija (1999, dt. Perversion, 2011) ist er - durch die Umstände bedingt - zum Klassiker der ukrainischen Gegenwartsliteratur geworden.
 

Bibliografische Daten:
 

Juri Andruchowytsch
Das letzte Territorium
Essays
Edition Suhrkamp
192 Seiten
Ladenpreis 14 Euro
Frankfurt am Main 2003
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-12446-8