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Vom Geist der Zeit | Die Meinungsseiten

Literarisches Schreiben

Maßstäbe und persönliche Stilbildung

Pro Lesen wendete sich im März 2025 an Leserinnen und Leser, die nach Wertmaßstäben suchen, um Belletristik kor­rekt beurteilen zu können. Darüber hinaus auch an alle, die selbst schreiben möchten und nach Anleitung suchen. 
Dabei griffen wir eine der ältesten Streitfragen auf, die unter angehenden Schriftstellern gestellt werden: Ist literarisches, also künstlerisches Schreiben eine Gabe, die man hat oder nicht hat, oder ob es sich um eine erlernbare Kunst handelt. 
In der Literaturwissenschaft herrscht weitgehend Überein­stimmung in der Auffassung, dass Handwerklichkeit bereits in dem Moment im Spiel sei, in dem jemand das Alphabet benutzt und dadurch schon einen Lernprozess der Fertigkei­ten und Kulturtechniken durchlaufen hat. Nämlich das Anei­nanderreihen von Buchstaben auf einer Zeile von links nach rechts (in der deutschen Sprache) sowie die Beachtung von sprachlichen und stilistischen Konventionen. 
Schreibenlernen hieße dann: 
 

Ein auf Erfahrung gründendes Wissen darüber zu erwerben, wie man schreibend die Spannung zwischen Idee und Aus­druck nutzen kann, um Texte zu Papier zu bringen, die for­mal und inhaltlich aussagefähig sind. Mit anderen Worten: Unsere manuelle Arbeit mit Wörtern, Sätzen und Ideenket­ten soll uns für Stilfragen sensibilisieren.
 

Um diesen Gedanken weiter zu verfolgen, waren wir pragmatisch vorgegangen. Und wandten uns dem zu, das am Anfang eines jeden literarischen Werks steht. Nämlich den ersten Sätzen.

 Der Schriftsteller und Kulturkritiker Stefan aus dem Siepen hat zu diesem Thema ein Buch verfasst, das den bezeich­nenden Titel trägt: 

 

Wie man schlecht schreibt

 

Aus diesem zitiere ich, wie kann es anders sein, den Anfang:

„Nichts ist wichtiger als der Anfang! Er legt den Ton des ganzen Werkes fest, gibt eine Kostprobe seines sprachlichen Charakters, seiner literarischen Farbe, seines intellektuellen Anspruchs; mit ihm verspricht der Autor etwas, das er im Folgenden auf jeder Seite wird einhalten müssen. Zugleich soll der Anfang den Leser neugierig machen, ihn dazu ver­führen, sich auf das Abenteuer der Lektüre einzulassen.“

Um den Elementen des literarischen Schreibens auf die Spur zu kommen, stelle ich 17 ausgewählte Romananfänge aus der Literatur des späten 19., des 20. und des beginnenden 21. Jahrhunderts vor. Sie sind in drei Gruppen unterteilt:

Romane mit reißerischen Anfängen, welche Spannung an­kündigen

II Romane mit weitschweifigen Anfängen, teilweise mit Be­schreibung von Land und Leuten, manchmal mit drastischen Schilderungen persönlicher und sozialer Verhältnisse, die eine detaillierte Erzählung vermuten lassen, der es aber nicht an Dramatik fehlen muss

III Romane mit pointierten Anfängen, die abstrahieren und das Nachfolgende auf den Punkt bringen wollen

Um hinter dem jeweiligen Stil das Handwerkliche, also die Beherrschung der Sprache in sämtlichen Nuancen, freilegen zu können, werde ich auf starke und schwache Verben, tref­fende Adjektive und Substantive sowie auf den Satzbau, sei er stringent oder mit Einschüben, hinweisen. 

 

 

I Reißerische Anfänge

 

Text 1

 

Es ist ein schrecklicher Fall – absonderlich, voller Rät­sel und Unwägbarkeiten; einerseits ganz einfach, an­dererseits sehr kompliziert; ein Fall, der wie ein Bou­levardroman anmutet – so übrigens wurde er in unse­rer Stadt auch von allen bezeichnet – und der doch gleichzeitig den Stoff eines tiefgründigen Kunstwer­kes abgeben könnte…“

 

Iwan Bunin: Der Fall des Kornett Jelagin

Literaturnobelpreis 1933; erschienen 1926

 

Bunin setzt auch in dieser Erzählung die Tradition der russi­schen Literatur des 19. Jahrhunderts in eindrücklicher Weise fort. Er spielt mit der Sprache, entscheidet sich für treffsi­chere Eigenschaftswörter (Adjektive). Er kündigt den Bericht über ein letztlich außergewöhnliches Ereignis an. In diesem Kontext verlieren Wörter wie „schrecklich“ oder „absonder­lich“ viel vom Beigeschmack ihres häufig inflationären und falschen Gebrauchs. Sie verstärken die Beschreibung und lösen beim Leser eine positive Erwartung aus.

Text 2

 

„Viele Jahre später, vor dem Erschießungs-kom­mando, sollte Oberst Aurelio Buendia sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mit­nahm, das Eis kennenzulernen.“

 

Gabriel Garcia Marquez: Hundert Jahre Einsamkeit

1967

© Kiepenheuer & Witsch

 

Mit dieser Knall auf Fall-Eröffnung sorgt Garcia Marquez für eine spannungsgeladene Ouvertüre. Und sie gelingt ihm mit normalen Worten. Nichts ist sprachlich überdreht. Die zu er­wartende Grausamkeit wird sachlich beschrieben, keins der Wörter ist überladen. Das ferne Ereignis wird lakonisch und ohne Überbetonung erwähnt. Doch gerade dadurch wird ein Spannungsverhältnis erzeugt, das alles sprengt. Ein wahr­haftig meisterhafter Romanbeginn. 

 

Text 3

 

In Santiago, der Hauptstadt des Königreichs Chili, stand gerade in dem Augenblick der großen Erder­schütterung vom Jahr 1647, bei welchem viele Tau­send Menschen ihren Untergang fanden, ein junger, auf ein Verbrechen angeklagter Spanier namens Jero­nimo Rugero an einem Pfeiler des Gefängnisses, in welches man ihn eingesperrt hatte, und wollte sich erhenken.“

 

Kleist: Das Erdbeben von Chili

1807

 

Kleist liebte die langen Sätze, so wie auch die meisten sei­ner Zeitgenossen. Keine Information sollte unterschlagen werden, bekannte und erkennbare Hintergründe werden zu­mindest skizziert. Und alles hat sich in den klassischen Satz­bau zu fügen, in dem selbstverständlich Verschachtelungen erlaubt waren. Wobei Letztere voneinander unterschieden werden konnten. Die Leser der damaligen Zeit waren ohnehin gewohnt, sich zu konzentrieren und auf den Text einzulassen. Und sie erkannten die raffinierten Ausdrucksstufen, die zwischen Zustandsbeschreibung, Katastrophenankündigung und ungewöhnlichem persönlichen Schicksal verliefen. Die Sprache wurde herausgeputzt, stellenweise wirkte sie manieriert, und die Textmelodie war ähnlich einem Musikstück komponiert. Heute würde man den Vorfall anders beschreiben. Etwas karger, etwas nüchterner, aber ebenfalls kunstvoll. Doch wer Sprache in ihrer gesamten Vielfalt beherrscht, darf es dennoch auch heutzutage wagen, zumindest ähnlich wie Kleist zu schreiben. 

 

 

II Weitschweifige Anfänge

 

Text 4

 

Es lag ein Bischof tot in einer Mur am Zederngebirge fünf Stunden schon unter strömenden Wolkenbrü­chen. Die Mur war hinabgemalmt mit ihm und seinem Karren und seinen Maultieren und seiner Geliebten, unter ihm fort, über ihn hin, als schmettere das Erd­reich ihn in den Schlund der Hölle, kurz vor Anbruch der Nacht.

Fünf Stunden donnerten die Gießbäche, Felsen und Schuttlawinen; die Bergflanke bebte. Fünf Stunden kauerte die Geliebte neben dem Gehassten, unver­letzt, nass bis zur Haut, frierend, obwohl es warm war. Fünf Stunden schrien und keilten hufoben die Mulis und rüttelten durch das verknäulte Geschirr den Wagenkasten, der ohne Räder hintüber auf dem Stein­meer saß, bedeckt von grauenvoller Dunkelheit.

 

Wolf von Niebelschütz: Die Kinder der Finsternis

Erschienen 1959
© Eugen Diederichs Verlag

 

Solche Wortkaskaden setzen starke Verben wie strömen, hinabmalmen, schmettern, donnern, beben oder keilen vo­raus. 

Niebelschütz hat sich eines fiktiven mittelalterlichen Gesche­hens angenommen und in der nachempfundenen Sprache der Zeit heutigen Lesern erzählt. Auf diese geht ein Bombar­dement kraftvoller Ausdrücke nieder. Stellenweise muss der Autor innehalten, um diese Masse an Ausdrücken bändigen zu können. Und auch der geübte Bibliomane bekommt ein li­terarisches Menu mit einer kaum überschaubaren Anzahl von Gängen serviert, sodass ab einem bestimmten Punkt der Lektüre die Sättigung abnimmt und der Hunger nach mehr stets zunimmt. Ja, man kann sich kaum sattlesen an diesem Roman, der hinsichtlich seiner Handlungen kaum überschaubar ist. 

 

Text 5

 

Im Norden der Grafschaft Ruppin, hart an der meck­lenburgischen Grenze, zieht sich von dem Städtchen Gransee bis nach Rheinsberg hin (und noch darüber hinaus) eine mehrere Meilen lange Seenkette durch eine menschenarme, nur hie und da mit ein paar alten Dörfern, sonst aber ausschließlich mit Förstereien, Glas- und Teeröfen besetzte Waldung. Einer der Seen, die diese Seenkette bilden, heißt „der Stechlin“. Zwi­schen flachen, nur an einer einzigen Stelle steil und quaiartig ansteigenden Ufern liegt er da, rundum von alten Buchen eingefasst, deren Zweige, von ihrer ei­genen Schwere nach unten gezogen, den See mit ihrer Spitze berühren. 

 

Theodor Fontane: Der Stechlin

Erschienen 1897

 

Die exakte Schilderung einer beschaulichen Landschaft, die trotz langer Sätze in der Fantasie des Lesers Gestalt annimmt, versteht sich als eine Art Einführung, als ein Prolegomenon zur eigentlichen Handlung des Romans. Sie ist typisch für dieErzähler des 19. Jahrhunderts. Gottfried Keller, Wilhelm Raabe oder Theodor Storm haben es ähnlich gemacht. Diese Herangehensweise an den Stoff des Romans erfüllt einen bestimmten Zweck. Sie soll deutlich machen, welche Menschen ein Landstrich hervorgebracht hat und welche Art Symbiose es zwischen Land und Leuten bzw. Leuten und Land gibt. Im Hintergrund dieses Wechselverhältnisses tauchen, wenn auch nur in dünnen Linien, die historischen Verhältnisse auf. Bei Fontane ist das Preußen, sein kleiner und mittlerer Adel, und selbstver­ständlich sein Militär. Erst im Verlauf der späteren Romane distanziert er sich vorsichtig davon. In „Effi Briest“ werden überkommene Konventionen bereits behutsam infrage ge­stellt. Im Spätwerk „Der Stechlin“ gerät der lutherische Landpastor in den Verdacht, sozialdemokratischen Ideen an­zuhängen. Das sind Signale für eine Revolution, für das Ende eines Zeitalters. Doch am Anfang steht eine naturalis­tische Landschaftsbeschreibung. Wer die Sprache richtig ein­zusetzen versteht wie Fontane, kann daraus ein immer gülti­ges Stilmittel machen. 

 

Text 6

 

Als der sechzehnjährige Karl Roßmann, der von sei­nen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam ge­wordenen Schiff in den Hafen von New York einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewor­denen Sonnenlicht. Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor, und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.

›So hoch!‹ sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehen dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer ge­schoben.

 

Franz Kafka: Amerika

Verfasst 1914, Erstdruck 1927

 

Wir sind in der Moderne angelangt. Der Avantgardist Franz Kafka beschreibt sie mit eher zurückhaltenden, doch sehr treffenden Worten. Das Alltägliche trifft auf das Besondere. Das Gestrige ist vergangen, obwohl es nie gänzlich vergeht. Die freien Lüfte lassen sich nicht einfangen. Selbst dann nicht, wenn die Statue der Freiheitsgöttin nicht mehr am Tor einer freien Welt steht. Kafka hat viel zwischen den Zeilen geschrieben. Damit dies dem Leser auffällt, hat er ge­bräuchliche Verben und Adjektive in einer Weise miteinander verbunden, dass sie transparent werden. Möglicherweise be­wegt sich ein derartiges literarisches Talent jenseits des Handwerklichen. Das sollte den angehenden Schreiber aber nicht davon abhalten, ein Handwerksmeister zu werden.

 

Text 7

 

Im Jahr 1845 ereignete sich in einer Familie des badi­schen Adels, die im mittleren Teil des Großherzog­tums, beim Austritt der Rench in die Rheinebene, an­sässig war, ein Vorfall, der in der Folge nicht aufge­klärt werden konnte. Kurz vor der Trauung mit dem Freiherrn von G., die der Koadjutor, ihr Oheim, vollzie­hen sollte, ging die achtzehnjährige Hortense von Wierssen im Bahnhof Oos spurlos verloren.

 

Otto Flake: Hortense oder Die Rückkehr nach Baden-Baden

Erschienen 1933

© S. Fischer Verlag

 

Der zu Unrecht in Vergessenheit geratene Otto Flake, der aus Metz stammte, in Colmar zur Schule ging, in Straßburg studierte und zusammen mit René Schickele die deutsch-elsässische Literatur­zeitschrift „Stürmer“ begründete, hat häufig histori­sche Motiven aufgegriffen, die er in seinen zahlrei­chen Romanen in fiktiver Weise fortspann. Flake verfügte über die Begabung, schriftstellerische Per­fektion mit der kritischen Reflexion seiner Stoffe verbinden zu können. Er war kein Vertreter der kur­zen Darstellung, aber ein Meister bei der Verknüp­fung detaillierter Beschreibungen, die wegen dieser Kunstfertigkeit weithin verstanden und folglich viel gelesen wurden und deretwegen er literarische Höhen erreichte. Das Zitat aus „Hortense“ soll das andeuten. 
Flakes große Zeit waren die 1920er Jahre. Rolf Hochhuth, in den 1950ern Lektor bei Bertelsmann, entdeckte ihn neu. Im Bertelsmann-Lesering er­schienen die meisten seiner Romane in Neuauflagen und erreichten eine Millionenauflage. 

 

Text 8

 

Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wöl­ben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Strand kippen. Der straffe Überschlag, schon weißlich gestriemt, umwickelt ei­nen runden Hohlraum Luft, der von der klaren Masse zerdrückt wird, als sei da ein Geheimnis gemacht und zerstört worden. Die zerplatzende Woge stößt Kinder von den Füßen, wirbelt sie rundum, zerrt sie flach über den graupligen Grund. Jenseits der Brandung ziehen die Wellen die Schwimmende an ausgestreck­ten Händen über ihren Rücken. Der Wind ist flatterig, bei solchem drucklosen Wind ist die Ostsee in ein Plätschern ausgelaufen. Das Wort für die kurzen Wel­len der Ostsee ist kabbelig gewesen.

 

Uwe Johnson: Jahrestage
1970
© Suhrkamp Verlag

 

Uwe Johnson war ein Wortkünstler, ein literarischer Ästhet. Er beschreibt menschliche Schicksale im Kontext geschichtli­cher und politischer Zwänge. Das macht die Lektüre seiner Romane spannend und zugleich lehrreich. Im gleichen Maß aber kann man bei ihm in einen Fluss, gar ein Meer von Wörtern eintauchen: Wellen, die schräg treiben, sich zu Bu­ckeln wölben, zitternde Wasserkämme, straffe Überschläge, runde Hohlräume, zerdrückende klare Massen. Das muss ei­nem erst einmal einfallen, das muss kreiert werden. Men­schen, deren Grundwortschatz sich zwischen mega, super, cool und geil bewegt, werden ihn mutmaßlich nicht verste­hen können, halten seine Ausdrucksstärke möglicherweise für hochnäsig, gar für überflüssig. Doch wer ihm nacheifern möchte, sollte sich einüben im Finden starker Verben, aus­sagefähiger Adjektive und präziser Subjektive. Eigentlich lernt man das ja im Deutschunterricht, eigentlich. Doch die Realität sieht häufig anders aus. 
Wer in Johnsons „Jahrestage“ hineinfinden will, sollte nicht nur das Buch lesen, sondern auch ein Hörbuch genießen. Ei­nes empfehle ich besonders. Es wird von Charly Hübner und Caren Miosga gesprochen.

 

Text 9

 

Ringsum hatte sich die graue Schicht der Nacht geho­ben, als wir das Achterdeck betraten, unausgeschla­fen, wie aus der Naht getrennt, leicht fröstelnd in der Brise, die den Kimm reinfegte und uns bald schon das Schauspiel der näher rückenden Steilküste Mallorcas bot. Am Vorabend hatte eine Trübung des Himmels den in jedem Reisehandbuch anempfohlenen letzten Blick auf die ins Meer versinkende Kette des sagen­haften Montsalwatsch verwehrt. Nun wurden wir reichlich entschädigt, und ich um so mehr, je weniger mich die Landschaft, das Schöne in der Natur als ihr großes Los zu fesseln vermag. Denn dass mir die Welt so hin und wieder durch ihre Laterna magica eine be­rühmte Ansichtskarte in ihrer vorbildlichen Form vor die Augen stellt, ist nicht mehr als billig, sehe ich es von dem Standpunkt eines Beobachters, der sein Da­sein immer noch nicht als eine kleine Vergnügungs­reise mit Plaid und Parapluie auffassen kann.

 

Albert Vigoleis Thelen: 
Die Insel des zweiten Gesichts
Erschienen 1953
© Claasen Verlag

 

Thelen, der vom Niederrhein stammte und dort 1989 im Al­ter von 85 Jahren starb, gilt immer noch als der große Un­bekannte der deutschen Literatur. Er blieb vielen verborgen, obwohl sein Mallorca-Roman „Die Insel des zweiten Ge­sichts“ den großen literarischen Werken des 20. Jahrhun­derts zugerechnet wird. Bedeutende Schriftsteller wie Thomas Mann, Paul Celan, Siegfried Lenz und Maarten ’t Hart bezeichneten ihn als einen solchen. 
Thelens Sprache ist von großer Vielfalt, er schöpfte aus dem Wortschatz der sechs Sprachen, die er beherrschte, grub Wörter und Wendungen wieder aus, die bereits in Verges­senheit geraten waren und spielte in wortschöpferischen Va­riationen mit der Sprache. Das macht die Lektüre seiner Werke, vor allem die des Mallorca-Romans, nicht einfacher.
Bei Thelen fallen neben neu belebten alten Wörtern die Wortverbindungen auf, beispielsweise „die graue Schicht der Nacht“, „der anempfohlene letzte Blick“ oder die „kleine Vergnügungsreise mit Plaid und Parapluie“ wie sie in der Einleitung zu finden sind. Sein Roman, der die wechselvolle Geschichte Mallorcas zwischen Republik und Franco-Diktatur anhand vieler Einzelschicksale erzählt, ist ein sprachliches Meisterwerk und kann auch als Lehrbuch literarischer deut­scher Sprache dienen.

 

Text 10

 

„Davor kann ich nur warnen!“ Das waren die Worte des Kollegen N., als ich ihm meinen Plan eröffnete, mit einer Netzkarte einen Monat lang kreuz und quer durch die Bundesrepublik zu fahren. Kollege N. hilft mir unaufgefordert mit so manchem Wink und Kniff. Er erkundigt sich stets nach meinen Fortschritten und sagte des Öfteren, ich sei genau der Richtige für die Schule.

„Das bringt nichts“, sagte er jetzt. „Man muss schon wissen, was man will!“ – „Und um das zu wissen“, entgegnete ich, „muss ich erst meine Möglichkeiten prüfen.“ „Jetzt vor dem Examen?“ – „Jawohl, jetzt!“ Ich hätte, sagte ich, schon lange genug Referendar gespielt und könne von Lernzielen und Urlaubszielen und sonstigem Gezieltem und Geplantem nichts mehr hören. 

 

Sten Nadolny: Netzkarte
Erschienen 1981
© List Verlag

 

Irgendwie passt Nadolnys „Netzkarte“ zum „Deutschlandti­cket“. Obwohl sich der Autor damals eine richtige Netzkarte kaufte, mit der er sämtliche Züge der Deutschen Bundes­bahn nutzen konnte. Aber wegen vieler Bekanntschaften, die er unterwegs schloß, unterbrach er seine Fahrten ständig, musste mit Nahverkehrszügen die weniger gut erschlossenen Regionen überbrücken und lernte auf diese Weise nicht nur Fahrpläne und Züge, sondern auch diverse Bahnhöfe kennen. 
Es war eine originelle Idee, seine Reiseerfahrungen in einem Roman festzuhalten. Dieser wurde zum Erfolg, weil man seine Sprache verstand. Sie war bewusst ungekünstelt und wegen der vielen Verben atmosphärisch sehr dicht. Stellen­weise erzählt er geradezu atemlos, bringt den Takt der Ei­senbahn, das typische Klick, Klick, Klack, das die aneinan­derstoßenden Schienen auslösen, zu Gehör. Nadolnys Worte sitzen, lassen sich auch mit einem Synonymwörterbuch kaum mehr verbessern. Der Text ist exakt und pünktlich, so wie es einst die Deutsche Bahn war.

 

Text 11

 

Die dabei gewesen sind, die letzten, die ihn noch ge­sprochen haben, Bekannte durch Zufall, sagen, dass er an dem Abend nicht anders war als sonst, munter, nicht übermütig. Man speiste reizvoll, aber nicht üp­pig; geredet wurde viel, Palaver mit Niveau, wobei er wenigstens zu Anfang, scheint es, nicht stiller war als die andern. Jemand will sich gewundert haben über seinen müden Blick, wenn er zuhörte; dann wieder beteiligte er sich, um vorhanden zu sein, witzig, also nicht anders als man ihn kannte. Später ging die ganze Gruppe noch in eine Bar, wo man vorerst in Mänteln stand, später sich zu andern setzte, die ihn nicht kannten; vielleicht wurde es deswegen still. Er bestellte nur noch Kaffee. Als er später aus der Toi­lette zurückkam, sagen sie, war er bleich, aber eigent­lich bemerkte man es erst, als er, ohne sich nochmals zu setzen, um Entschuldigung bat, er möchte nach­haus, fühle sich plötzlich nicht besonders. Er machte es kurz, ohne Handschlag, leichthin, um ihr Gespräch nicht zu unterbrechen.

 

Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein
Erschienen 1964
© Suhrkamp Verlag

 

Frisch geht es in diesem Roman, der neben „Stiller“ und „Homo Faber“ zu seinen Prosa-Hauptwerken zählt, um die Identität des Menschen. Um die tatsächliche und angenom­mene. Der Protagonist des Buchs wechselt seine Identitäten wie Anzüge. Das Leben dieses Mannes mit viel zu vielen äußeren und sozialen Eigenschaften wird in diversen Ab­schnitten erzählt, die wie Bildcollagen miteinander verbun­den sind und folglich einander widersprechend wirken. 
Frischs Sprache ist klar und an Ausdrücken reich. Sie be­dient sich bildungsbürgerlicher Beredtheit, die Sätze sind selten stark verschachtelt. Das erleichtert dem Leser den Durchblick durch das Wirrwarr multipler Identitäten. Neben dem stilvollen Duktus kann man von Frischs „Gantenbein“ vor alimmer wieder lem die Technik der Montage von Ereignissen lernen, die auf unterschiedlichen Ebenen und zu unterschiedlichen Zeiten stattfinden.

 

 

III Pointierte Anfänge

 

Text 12

 

Er reiste im Schutz der Immunität, denn er war nicht auf frischer Tat ertappt worden. Aber wenn es sich zeigte, dass er ein Verbrecher war, ließen sie ihn na­türlich fallen, lieferten ihn freudig aus, sie, die sich das Hohe Haus nannten, und welch ein Fressen war es für sie, welch ein Glück, welche Befriedigung, dass er mit einem so großen, mit einem so unvorhergesehe­nen Skandal abging, in die Zelle verschwand, hinter den Mauern der Zuchthäuser vermoderte, und selbst in seiner Fraktion würden sie bewegt von der Schmach sprechen, die sie alle durch ihn erlitten (sie alle, sie alle Heuchler), doch insgeheim würden sie sich die Hände reiben, würden froh sein, dass er sich ausgestoßen hatte, dass er gehen musste, denn er war das Korn Salz gewesen, der Bazillus der Unruhe in ihrem milden trägen Parteibrei, ein Gewissens­mensch und somit ein Ärgernis.

 

Wolfgang Koeppen: Das Treibhaus
1953
© Suhrkamp Verlag

 

Auch in seinem zweiten Roman innerhalb der „Trilogie des Scheiterns“ bedient sich Koeppen der Elemente des Span­nungsromans. Situationen, Reflexionen und Handlungen sind eng zusammengeballt, auch wenn sie in längeren Sät­zen dargestellt werden. Mehrfach kommt es zu überraschen­den Entwicklungen. Die Neugier des Lesers wird immer wieder neu entfacht. Ja, bei Koeppen wird man bei der Lektüre geradezu süchtig, die nächste Wendung zu erfahren. Doch ähnlich wie „Tauben im Gras“ und „Tod in Rom“ ist auch dieser ein politischer Roman. Und wer sich an die Zeit der jungen Bundesrepublik persönlich erinnern kann oder später die Berichte darüber aufmerksam gelesen hat, wird regelmäßig mit einem Aha den Fortgang der Erzählung begleiten. Denn die politischen Protagonisten sind schnell zu entschlüsseln. Sei es der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher, sei es Bundeskanzler Konrad Adenauer oder der Geheimdienstchef Reinhard Gehlen. 
Wer politisches Geschehen in einen Roman packen will und die deutsche Sprache in ihren diversen Möglichkeiten be­herrscht, sollte so schreiben wie Wolfgang Koeppen. Man kann das lernen. Und man kann lernen, wie man Ereignisse so kombiniert, dass sie zu plausiblen Theorien oder Hypothesen werden. Belletristik als Kampftechnik aller, die sich nicht beherrschen lassen wollen. Diese Literaturtechnik ist nur noch selten anzutreffen.

 

Text 13

 

Sie beauftragen mich, Arnes Nachlass einzupacken. Einen ganzen Monat ließen sie verstreichen – einen Monat der Ratlosigkeit und der verzweifelten Hoff­nung -, bis sie mich an einem Abend fragten, ob es nicht doch an der Zeit sei, seinen Nachlass einzusam­meln und zu verstauen, und so, wie meine Eltern das fragten, musste ich es als Aufgabe verstehen. Ich ver­sprach nichts; schweigend aß ich mein Abendbrot zu Ende, rauchte zum letzten Glas Bier eine Zigarette, dann stieg ich hinauf in mein Zimmer, das ich so lange mit Arne geteilt hatte, setzte mich auf seinen Hocker und brauchte eine Weile, ehe ich mich entschloss, sein ramponiertes Köfferchen vom benachbarten Boden zu holen und den Karton, den er damals mitbrachte.

 

Siegfried Lenz: Arnes Nachlass
1999
© Hoffmann & Campe Verlag

 

Siegfried Lenz‘ fiktiver Epilog auf einen Jungen, der in einer Pflegefamilie verzweifelt und selbst von seinem Nenn-Bru­der, mit dem er sich gut versteht, nicht gehalten werden kann und spurlos verschwindet, ist ein bewegender Roman. Man spürt in jedem Satz die Profession des erfahrenen Schriftstellers, der stets nur wenige Worte machen muss, um konkret das Ungesagte und das Verschwiegene, die ge­samte Nichtkommunikation in einer Familie, auszudrücken. Die Komposition des Textes könnte einem Lehrbuch für angehende Autoren entnommen sein. Starke Verben, treffende Adjektive und Substantive, die Sätze übersichtlich, auch dort, wo sie um der zu beschreibenden Sache willen etwas länger geworden sind.
Dies ist ein Buch für die anspruchsvolle Unterhaltung, das unangenehme Realitäten zur Sprache bringt und alles so er­zählt, wie man als guter Autor erzählen sollte.

 

Text 14

 

Als Mary K.s Gatte noch lebte, Oskar hieß er, und sie selbst noch auf zwei hübschen Beinen ging (das rechte hat ihr, unweit ihrer Wohnung, am 21. Septem­ber 1925, die Straßenbahn über dem Knie abgefah­ren), tauchte ein gewisser Dr. Negria auf, ein junger rumänischer Arzt, der hier zu Wien an der berühmten Fakultät sich fortbildete und im Allgemeinen Kranken­haus seine Jahre machte.

 

Heimito von Doderer, Die Strudlhofstiege oder Melzer und die Tiefe der Jahre
Erschienen 1951
© Biederstein Verlag / C. H. Beck

 

Heimito von Doderer, der von vielen Literaturkennern mit Thomas Mann auf eine Stufe gestellt wird, hat in seinen gro­ßen Romanen Motive aus der österreichischen Geschichte aufgegriffen und in komplexer Weise nacherzählt. Trotz sei­nes Hangs zu geradezu verbissener Genauigkeit kapituliert der interessierte und vorgebildete Leser nicht an der Fülle von Personen und Geschichten. Im konkreten Roman sind es Menschen, die im Umkreis der 1910 errichteten, architekto­nisch bemerkenswerten Treppenanlage „Strudlhofstiege“ im 9. Wiener Bezirk (Alsergrund) leben, sich treffen oder dort unterschiedlichen Aktivitäten nachgehen. 
Doderer versteht es, die Neugier des Lesers immer wieder anzustacheln und ihn gelegentlich bewusst in die Irre zu führen. Der in dem zitierten Eingangssatz erwähnte Dr. Neg­ria ist eine völlige Randfigur. Und das Schicksal der Mary K. wird erst ziemlich am Schluss ausführlich geschildert. Dode­rer, der ein ziemlich schwieriger Mensch und diversen künst­lerischen Gemeinheiten nicht abgeneigt war, ist eine Herausforderung für Literaturfreundinnen und Literatur­freunde. Sein Werk ist stilbildend. Wer seine Romane gele­sen hat, neben der „Strudlhofstiege“ seien „Die Wasserfälle von Slunj“ und „Die Dämonen“ empfohlen, wird für Konventionelles kaum noch erreichbar sein. Und was kann man über einen Autor und sein Werk Besseres sagen? 

 

Text 15

 

Es war schon dunkel, als ich in Bonn ankam, ich zwang mich, meine Ankunft nicht mit der Automatik ablaufen zu lassen, die sich in fünfjährigem Unter­wegssein herausgebildet hat: Bahnsteigtreppe runter, Bahnsteigtreppe rauf, Reisetasche abstellen, Fahr­karte aus der Manteltasche nehmen, Reisetasche auf­nehmen, Fahrkarte abgeben, zum Zeitungsstand, Abendzeitungen kaufen, nach draußen gehen und ein Taxi heranwinken. Fünf Jahre lang bin ich fast jeden Tag irgendwo abgefahren und irgendwo angekom­men…

 

Heinrich Böll: Ansichten eines Clowns
Erschienen 1963
© Kiepenheuer & Witsch

 

In diesem Roman zieht Heinrich Böll den Wertekanon der deutschen Nachkriegsgesellschaft in Zweifel. Hans Schnier, die Hauptfigur, erlebt die nicht aufgearbeitete NS-Zeit, den von der realen Welt sich zunehmend abwendenden Katholizismus und die Proklamation der Marktwirtschaft als Staatsmaxime. Alle, die er damit angegriffen hat, haben es ihm übel genommen. Im politisch bewussteren und intellektuelleren Teil der Bevölkerung hingegen wurde der kritische Spiegel, den Böll dem Land vorhielt, ernst genommen und begrüßt. Das lag nicht zuletzt an Bölls literarischer Komposition des Romans. Er wirft Schlaglichter auf Vorgänge, die sich innerhalb weniger Stunden entfalten, aber nachhaltige Hintergründe haben. Für diese Zügigkeit bedarf es einer schnellen Sprache. Da ist kein Platz für langatmige Abhandlungen. Böll beherrschte ohnehin das treffsichere Schreiben. In den „Ansichten eines Clowns“ gerät es zur Perfektion. Hier passt alles. Wer ein Beispiel für formal gelungenes Schreiben sucht, in diesem Roman findet er es.

 

Text 16

 

Vor gut zwölf Jahren habe ich zum ersten Mal eine Currywurst an der Bude von Frau Brückner gegessen. Die Imbissbude stand auf dem Großneumarkt – ein Platz im Hafenviertel: windig, schmutzig, kopfsteinge­pflastert. Ein paar borstige Bäume stehen auf dem Platz, ein Pissoir und drei Verkaufsbuden, an denen sich die Penner treffen und aus Plastikkanistern alge­rischen Rotwein trinken. Im Westen graugrün die ver­glaste Fassade einer Versicherungsgesellschaft und dahinter die Michaeliskirche, deren Turm nachmittags einen Schatten auf den Platz wirft. Das Viertel war während des Krieges durch Bomben stark zerstört worden. Nur einige Straßen blieben verschont, und in einer, der Brüderstraße, wohnte eine Tante von mir, die ich als Kind oft besuchte, allerdings heimlich. Mein Vater hatte es mir verboten. Klein-Moskau wurde die Gegend genannt, und der Kiez war nicht weit.

 

Uwe Timm: Die Entdeckung der Currywurst
Erschienen 1993
© Kiepenheuer & Witsch

 

Uwe Timm, der seinen Lesern bereits viele Milieus facetten­reich geschildert hat, widmet sich in diesem Roman den Menschen zu, die man an der Ecke treffen kann. Jenen, die ihre Alltagsexistenz meistern müssen. Aber genauso häufig die anderen, die es nicht ins Kleinbürgertum oder ins selbstbewusste Arbeitermilieu geschafft haben, die abgerutscht sind, die zu den Abgehängten zählen. Die beschriebene Imbissbude, nahe dem Hamburger Kiez gelegen, ist ein authentisches Kaleidoskop der Schicksale. Hier ist man für kurze Zeit einer von vielen. Und ohne Ansehen der Person gleichberechtigt.
Timms Sprache ist im strengen Sinn des Begriffs nicht lite­rarisch. Sie ist aufklärerisch, journalistisch-reportagehaft und entlarvend. Dabei hält sie die grammatikalischen Regeln streng ein und beweist, dass es keiner synthetischen Konstruktionen bedarf, um die Wirklichkeit genau und verstehbar zu schildern.

 

Text 17

 

Über die Brücke und den Fluss entlang in den Mittag hinein und mir noch einmal unseren ersten Herbst in Frankfurt erzählen. Müd dem Tag hinterdrein, über­stürzt und verspätet unsere Ankunft am Abend. Im­mer wieder das Geld gezählt. Es war der 31. August 1977 und das überladene Auto, übriggeblieben von unserer vorjährigen Griechenlandreise, schon fast am Zusammenbrechen. Das Geld und die Sorgen. Und die Zeit, wird sie uns reichen, die Zeit? Wir hatten kaum Geld und mussten uns darauf verlassen, dass wir es schon irgendwie schaffen würden. Ich hatte noch bis zum Nachmittag in Gießen in einer Buchhandlung ge­arbeitet, dann erst in Staufenberg mit Sybille unser abgeschlossenes voriges Leben zusammengepackt und eingeladen, viele Geschichten. Erst Sekt und dann Rotwein dazu getrunken und am Ende bei meinem Freund Manfred in Gießen (es ging auf den Abend zu, ein Gewitter zog auf) mit uns und dem Tag und dem Wein und dem Abschied wie immer kein Ende gefun­den.

 

Peter Kurzeck, Frankfurt – Paris – Frankfurt 
(2024 aus dem Nachlass)
© Schöffling & Co

 

Peter Kurzeck hat die Atemlosigkeit in die deutsche Litera­tursprache eingeführt. Den von ihm beschriebenen Men­schen, und weitestgehend beschreibt er sich selbst und sein wechselvolles Leben, fehlt die Zeit. Sie jagen hinterher, um das Wenige, das sie sich leisten können, noch zu erhaschen. Doch manchmal, auch wenn die Welt drumherum zusam­menzubrechen scheint, ist der Augenblick für den kleinen Genuss gekommen. Dann kommt es zu Pausen im Stakkato des Lebensfeindlichen, das ständig auf ihn einströmt. Weil sich das stets wiederholt, greift er es immer wieder auf. Doch diese Redundanzen sind literarisches Kalkül. Wer ein genaues Abbild von all dem machen will, was ist, muss stän­dig auf alles zurückkommen, darf nichts vergessen. Für Kurzeck ist diese Technik zum Stilmittel geworden. Er be­herrscht sie. Und seine Leser warten darauf, dass er weiter­macht, immer wieder neu anfängt, denn längst ist noch nicht alles gesagt.
Vermutlich lässt sich diese Art des Schreibens nur schwer lernen. Man kann sich von ihr insporieren lassen, wenn man selbst unhaltbare Zustände in Worte fassen will. Wenn man alles, was einem an Widrigkeiten über den Lebensweg läuft, herausschreien möchte. Oder – wie Kurzeck- als schriftliches Zeugnis festhalten will.

 

 

Der Titel eines Buches 

 

„Einen Haufen Bücher mit übelerfundenen Titeln gibt es“, schreiben die Brüder Grimm in der Einleitung zu ihrem „Wörterbuch der deutschen Sprache“.

 

Hierzu einige Beispiele aus neuerer Zeit. Zunächst solche mit schwer verständlichen Titeln:

Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt (Peter Handke)

Detlevs Imitationen Grünspan (Hubert Fichte)

 

Auch nichtssagende Titel können schwer verständlich sein:

Die Stadt (William Faulkner, Paul Claudel)

Ein Leben (Italo Svevo)

 

Diesen gegenüber stehen die redseligen Titel, die fast schon Romaneröffnungen sind:

Der Hecht, die Träume und das portugiesische Café (Uwe Tellkamp)

Die Unschuldigen, ich und die Unbekannte am Rand der Landstraße (Peter Handke)

In einer dunklen Nacht ging ich aus meinem stillen Haus (Peter Handke)

 

Nicht vergessen will ich die erlesen-kitschigen Titel, die aus gefühlsbetonenden Worten zusammen-gesetzt sind, sich aber eigentlich gegenseitig ausschließen:

Die Stimmen der Stille (André Malraux)

Im Schatten junger Mädchenblüte (Marcel Proust)

Im Café der verlorenen Jugend (Patrick Modiano)

Die Wege des Meeres (Francois Mauriac)

 

Abzuraten ist auch von Zusätzen wie „wahr“, „erlesen“, „spannend“ oder „geheimnisvoll“. Solche Attribute sollten sich beim Lesen bewahrheiten und deswegen als Urteile dem Leser zustehen.

 

 

© der Buchauszüge bei den Verlagen, die jeweils genannt sind 
© der Kommentare: Pro Lesen e.V. / Redaktion / Klaus Philipp Mertens