Das Thema der 117. Pro Lesen-Themenwoche im Dezember 2024 lautete „Die Sache mit Gott“. Die Formulierung basiert auf einem Sachbuch des Theologen und Publizisten Heinz Zahrnt aus dem Jahr 1966. Er schildert darin die Wege der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert und verweist dabei auf deren Wegweiser im 17., 18. und 19. Jahrhundert.
Vor dem Hintergrund dieser Tradition geht es folglich um komplexe Zusammenhänge. Sämtliche Gedankengängen bewegen sich rund um das Wesen des Menschen und dessen Reflexionen. Letztere haben in erster Linie mit den Vorstellungen von einem Gott zu tun. Deswegen verbietet sich die unvermittelte Aufeinanderfolge von mehr oder weniger umfangreichen Zitaten aus den Werken wichtiger Gelehrter – es geht also um mehr als eine übliche Lesung von Ausschnitten aus gelehrten Büchern oder aus den Werken von Gelehrten. Der Schwerpunkt liegt auf Erwähnung relevanter Beiträge, exemplarischer Zitation und Kommentierung. Diese nichtakademische Vor-Lesung baut notwendigerweise auf Auszügen aus den Theorien von Theologen und Philosophen auf, die im Einzelnen genau genannt werden.
Ich nähere mich der „Sache mit Gott“ in mehreren Schritten. Zunächst gehe ich auf das Phänomen Buchreligion ein. Dann folgt ein längerer Abschnitt, in dem die Bücher der Bibel vorgestellt werden. Anschließend führt kein Weg an der Theologie vorbei, vor allem nicht an den wegweisenden Veröffentlichungen der letzten 200 Jahre. Den Beschluss mache ich mit Ausführungen zur Akzeptanz der Kirche und zu deren möglicher Zukunft.
Buchreligionen
Es ist kein Zufall, dass sich die Literatur- und Kulturinitiative PRO LESEN in den zurückliegenden mehr als 13 Jahren wiederholt mit religiösen Themen auseinandersetzte. Denn drei der großen Weltreligionen, also das Judentum, das Christentum und der Islam, gelten als Buchreligionen. Sie basieren auf Schriften von zum Teil unbekannten Autoren, die sich auf göttliche Inspirationen, gar auf Offenbarungen berufen. So gelten der Tanach (das jüdische Schrifttum, von den Christen als Altes Testament bezeichnet), das Neue Testament und der Koran als heilige Bücher.
Die Hebräische Bibel, der Tanach, enthält diese Teile: die Tora (das Fünfbuch), die Neviim (die Bücher der Propheten) und die Ketuvim (die Bücher der Könige, der Chronik, der Psalter, Hiob und das Buch Ruth).
Das mehrbändige Werk, das heute im Zentrum unseres Gesprächs steht, ist die christliche Bibel, die sich aus dem Alten und Neuen Testament zusammensetzt. In dieser Bibel wird die „Sache mit Gott“ behandelt. Genauer gesagt ist sie die Sache von Menschen mit einem von ihnen für existent gehaltenen Gott.
Seit der Tanach von den Juden um das Jahr 100 unserer Zeitrechnung und das Neue Testament von den Christen um das Jahr 367 kanonisiert wurden, sind fast 2.000 Jahre vergangen. Kanonisierung meint die Aufnahme in eine offizielle Schriftensammlung.
Die Einzelschriften des Alten Testaments sind älter, weil sie das jüdische Schrifttum umfassen. Wenn man die mündlichen Überlieferungen des Tanach hinzu zählt, muss man insgesamt 3.000 Jahre veranschlagen. So gilt für alle biblischen Schriften, dass sie von verschiedenen Autoren in unterschiedlichen Zeitaltern verfasst wurden. Folglich sind sie nicht aus einem Guss. Vielmehr gibt es einiges, das nicht zusammenzupassen scheint. Und es gibt eklatante Widersprüche zwischen den Büchern.
Im Alten Testament sind historische Bezüge erkennbar, ohne dass es sich um historische Zeugnisse im eigentlichen Sinn handelt. Das Neue Testament beinhaltet hingegen ausschließlich Glaubensaussagen, die auf Legenden fußen und von ihren Verfassern noch zusätzlich ausgeschmückt wurden. Keiner von ihnen hat Jesus erlebt, vorausgesetzt, dass es sich bei diesem tatsächlich um eine historische Person handelt, was sich jedoch nicht beweisen lässt.
Wenn man es positiv formulieren will, handelt es sich bei den biblischen Büchern um eine disparate Sammlung weisheitlicher Erfahrungen aus der antiken Welt, in der sich das Fragen der Menschen nach einem göttlichen Wesen spiegelt. Folglich ist die Auslegung dieser Texte schwierig. Will sie wissenschaftlichen Standards genügen, muss man mit den verschiedenen Sprachen des Altertums vertraut sein, ebenso mit den jeweiligen historischen und kulturellen Gegebenheiten der jeweiligen Zeiten. Bereits im 18. Jahrhundert forderten christliche Theologen die Anwendung der historisch-kritischen Textforschung. Denn ohne Detailwissen lässt sich kein Glaube begründen, erst recht lassen sich keine dogmatischen Aussagen treffen.
Theologen und Philosophen haben sich vor allem in den Ländern der Reformation mit diesem Themenkomplex auseinandergesetzt. Häufig sind sie dabei mit der offiziellen Kirche aneinander geraten. Wir werden heute Abend einigen dieser kritischen Geister in Textauszügen begegnen. Dabei bleiben wir nicht in der Vergangenheit, sondern unternehmen eine Zeitreise, die in der Gegenwart vorläufig endet und vermutlich noch lange andauern wird.
Die christlichen Kirchen sind vor dem Hintergrund der Komplexität der Sache und den Herausforderungen des jeweiligen Zeitalters zunehmend sprachlos geworden. Sie haben dadurch fromme Gemeinden mit teilweise einfältiger Frömmigkeit hervorgebracht, die kaum in der Lage sind, die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung aufzunehmen. Es gibt einen Zwiespalt zwischen akademischer Theologie und der Predigt in der Gemeinde. Dadurch stellt sich die Theologie ständig selbst ein Bein.
Bücher der Bibel
Bei objektiver Betrachtung lässt sich die Bibel begreifen als eine Sammlung von Erzählungen, historischen Berichten, Briefen und Biografien, Gedichten und Liedern. In ihrem erstem Teil, dem Alten Testament, wird die Geschichte eines Volkes, der Israeliten, abgebildet. Alle Texte des Tanach sind Ausdruck einer einzigartigen Einheit von Volk, Gott und einem von diesem Gott verheißenen Land. Über einen Zeitraum von über eintausend Jahren wurde an dieser Perspektive festgehalten und durch Ergänzungen und Bearbeitungen bekräftigt. Um diesen Entwicklungsprozess deutlich zu machen, stehen ältere Texte neben neueren. Ein typisches Beispiel dafür sind die zwei Schöpfungserzählungen.
Das Neue Testament hingegen ist in etwa einhundert Jahren entstanden. Es greift den Gottesgedanken des Judentums auf, konkretisiert die Erlösergestalt des jüdischen Messias durch die Person Jesus, wobei der Anbruch des Gottesreiches von einer deutlichen Naherwartung geprägt ist. Und es belebt die Hoffnung auf eine lebensähnliche Existenz nach dem Tod.
Die Bibel erfüllt sämtliche Kriterien, die man üblicherweise an Literatur stellt. Sie erzählt, klärt auf, reflektiert und resümiert. Und sie weist sogar eine eigene Literaturgeschichte auf. Denn sie ist nicht vom Himmel gefallen. Eine Vielzahl von Autoren und Bearbeitern haben zu diesem Werk aus 79 Einzelbüchern beigetragen (unter Berücksichtigung der alttestamentlichen Apokryphen und Pseudepigraphen – Letztere sind Schriften mit bewusst falschen Verfasserangaben -, auf welche die Luther-Bibel verzichtet und darum lediglich 66 Einzelschriften zählt). Und gar nicht selten offenbaren sich Widersprüche in den Aussagen über die Schöpfung der Welt, über das Gottesbild, über ethische Maßstäbe, über die gesellschaftliche sowie politische Ordnung oder über die Zukunft des Menschen. Zwar haben etliche christliche Theologen vergangener Jahrhunderte die Meinung vertreten, dass die Bibel durch eine Verbalinspiration den Evangelisten in die Feder diktiert worden sei (wie es mittelalterliche Buchmalerei in naiver Anschaulichkeit darstellt); die historisch-kritische Forschung hat uns aber eines anderen und besseren belehrt. Sie hat nicht nur den langwierigen Werdegang der einzelnen Schriften erforscht, sondern zugleich aufgedeckt, dass diese Inspirationslehre keineswegs dem Selbstverständnis der biblischen Schriftsteller entsprochen haben kann.
Zu Beginn unserer Zeitrechnung befand sich Palästina im Umbruch. Politisch gesehen war trotz der rebellischen Gesinnung einzelner israelitischer Kreise und kleinerer Aufstandsversuche die römische Herrschaft festgefügt. Umso unruhiger und unüberschaubarer aber war das geistige Leben - und das vollzog sich als dogmatische Bekräftigung durch die Kaste der Hohen Priester, das hebräische Wort lautet Sadduzäer, oder durch mehr oder weniger deutliche Infragestellung des überkommenen religiösen Kults durch Volksgelehrte, die Pharisäer.
Ein eindrückliches und anschauliches Beispiel dafür bieten die erst 1949 aufgefundenen Schriften der Sekte von Qumran am Toten Meer. Hier hatte sich an abgelegenem Ort eine Gemeinschaft zusammengefunden, die, von fanatischem Eifer für das Gesetz des Mose getrieben, die Masse des israelitischen Volkes samt der priesterlichen Führungsschicht in Jerusalem als vom Glauben abgefallen und für das Heil verloren ansah und nun als Gemeinde eines „neuen Bundes" auf den baldigen Anbruch einer totalen Gottesherrschaft wartete.
Den Mitgliedern der Qumran-Bewegung steht eine Gestalt nahe, die im NT erwähnt wird: Johannes der Täufer. Dieser sonderbare Mann hauste ebenfalls abseits des besiedelten Landes in einem wüstenähnlichen Landstrich am Jordanufer zusammen mit einigen Anhängern.
Auch er erwartet den baldigen sichtbaren Anbruch des Reiches Gottes, dem ein Weltgericht vorangehen würde. Voraussetzung an der Teilhabe an diesem Reich Gottes auf Erden ist nach seiner Überzeugung die Bereitschaft zur Buße. Als Zeichen der Bereitschaft zur Umkehr (Altgriechisch: Metanoia) verlangt Johannes von jedem, sich einem Taufbad zu unterziehen, das er im Anschluss an seine Predigten jeweils im Unterlauf des Jordans vornimmt.
Auch der mutmaßlich aus dem nordpalästinensischen Nazareth stammende Jesus hatte sich offenbar um das Jahr 30 nach der Zeitenwende von Johannes taufen lassen und bald danach begonnen, selbst öffentlich zu predigen und zur Umkehr aufzurufen. Das vollzog sich wahrscheinlich nur innerhalb eines einzigen Jahres. Dann wurde Jesus durch die misstrauische, einem religiösen Dogmatismus verpflichtete Jerusalemer Führungsschicht vor dem römischen Statthalter Pilatus wegen angeblichen Aufruhrs gegen die politische Gewalt angezeigt und von ihm nach kurzem Prozess zum Tode verurteilt und am Kreuz hingerichtet.
Jesus selbst hat keine einzige Zeile niedergeschrieben. Nachdem die Ostererscheinungen die Apostel hatten annehmen lassen, dass ihr Meister in der Sphäre Gottes weiterleben und als Menschensohn und Weltenrichter alsbald wiederkehren würde, werden seine Worte und bald auch die Erzählungen über seine Taten als religiöses Vermächtnis gepflegt und zunächst mündlich überliefert.
Die ersten schriftlichen Berichte und Glaubenszeugnisse sind in Briefen dokumentiert, die an erste, noch überwiegend judenchristliche, Gemeinden adressiert sind. Der 1. Thessalonicherbrief aus dem Zeitraum 51/53 ist der erste dieser Briefe und das älteste schriftliche Dokument der Christenheit; in kurzen Abständen folgen weitere, darunter auch der berühmte Paulus-Brief an die Römer.
Erst für das Jahr 60 lässt sich eine erste Niederschrift von überlieferten Sprüchen und Erzählungen über Jesu Wirken nachweisen. Sie wird als Markus-Evangelium bezeichnet. Auf die Jahre 65 bis 70 lassen sich das Matthäus- bzw. das Lukasevangelium datieren, letzterem folgt zeitgleich die Apostelgeschichte.
Diese drei Evangelien stimmen sowohl im formalen Aufbau als auch weithin in der inhaltlichen Ausrichtung der Reden- und Erzählteile überein, auch wenn es unterschiedliche Akzentuierungen gibt. Die Forschung fasst sie unter dem Begriff Synoptische Evangelien zusammen, was vom altgriechischen Wort Synopsis „Zusammenschau" abgeleitet ist. Meist kann man einen Abschnitt aus einem dieser Evangelien neben den entsprechenden aus dem anderen Evangelium zum Vergleich anordnen. Durch den Seitenblick auf die Parallele wird oft die Überlieferungsgeschichte eines Abschnitts klarer und das Verständnis erleichtert.
Die Quelle für Matthäus und Lukas war einmal das Markusevangelium. Es ist das kürzeste und älteste Erzählwerk über Jesus. Wo Matthäus oder Lukas vom Text des Markus abweichen, lässt sich fast immer ein besonderes schriftstellerisches Interesse nachweisen. Nämlich auf Erwartungen der Gemeinden eingehen zu wollen und die Vorgänge um Jesus in einen heilsgeschichtlichen Kontext zu stellen, also zu interpretieren. Doch nicht alles, was die beiden über Markus hinaus beinhalten, erklärt sich als eine „verbesserte und erweiterte Auflage" des Markusevangeliums.
Sowohl Matthäus als auch Lukas sind fast doppelt so umfangreich als Markus. Während Markus mit der Wiedergabe von Jesus-Reden sehr sparsam ist, finden sich solche bei den anderen viel häufiger. Diese Redepartien stimmen oft wörtlich überein und machen zudem einen altertümlichen Eindruck – auch im Vergleich mit dem Schrifttum dieser Epoche. Das führt zu dem zwingenden Schluss, dass das Markusevangelium nicht allein als Quelle benutzt wurde, sondern dass Matthäus und Lukas darüber hinaus eine Spruchquelle benutzt haben, eine aramäische Sammlung jesuanischer Aussprüche (auch Logienquelle Q genannt). Eingehende Untersuchungen haben nachgewiesen, dass die Spruchquelle noch früher abgefasst sein muss als das Markusevangelium. Leider lässt sie sich nicht mehr in ihrem gesamten Umfang rekonstruieren. Allerdings gibt es auch wissenschaftliche Zweifel, dass sie als selbstständige Quelle überhaupt existiert hat.
Beeinflusst wurden die Evangelien, insbesondere das Lukasevangelium, auch vom römischen Mithraskult. Die Geburt des Sonnengottes Mithras wurde im gesamten römischen Weltreich am Tag der Wintersonnenwende gefeiert. Also auch in den römischen Provinzen Palästina und Syrien. Inhaltlich weist der Mithraskult Parallelen zum Christentum auf: Ein Vatergott entsendet seinen Sohn, um das Böse in der Welt zu überwinden. Mithras verfügte über 12 enge Anhänger. Vor seinem Tod versammelte er diese zu einem letzten Abendmahl. Das Symbol des Mithraskults ist ein gleichschenkeliges Kreuz.
Im Urchristentum wurde die Geburt Christi nicht gefeiert. Auch die Jungfrauengeburt war unbekannt. Sie wurde später aus dem Altägyptischen und Altiranischen übernommen. Die Geburt (Kopfgeburt) eines göttlichen Kindes taucht hingegen in der altgriechischen Mythologie auf.
Der Theologe Rudolf Bultmann (1884 – 1976) verweist in seinem Jesus-Buch auf die erkennbar verschiedenen Schichten in den synoptischen Evangelien. Er schreibt: „Die Trennung jener Schichten in den synoptischen Evangelien geht zunächst von der Tatsache aus, dass diese Evangelien griechisch innerhalb des hellenistischen Christentums verfasst sind, während Jesus und die älteste Gemeinde in Palästina Aramäisch sprachen.“
Das vierte Evangelium, dessen Autor als Johannes bezeichnet wird, bringt wenig Erzählstoff und gibt die Reden Jesu in einer sehr deklamatorischen Sprache wieder, die von einem Offenbarungserlebnis geprägt ist. Das Judentum als religiösem Hintergrund des neuen Glaubens wird erkennbar als Gegner gesehen. Auch in seinem geplanten Aufbau (Prolog, Offenbarungen in Form von Reden, Wundern, Passion) unterscheidet es sich stark von den anderen Evangelien. Es ist höchstwahrscheinlich kurz vor oder nach dem Jahr 100 n.Chr. in der Umgangssprache der Spätrömischen Antike, in Koine-Griechisch, niedergeschrieben worden und orientiert sich stark an altgriechischen religiösen Vorstellungen. So wird im ersten Kapitel von einem präexistierenden Logos gesprochen, also einem von Beginn der Welt an existierenden göttlichen Wort, das in der Person Jesu Gestalt angenommen habe.
Die Texte des Neuen Testaments (mit Ausnahme des Johannesevangeliums) wurden, wie es Bultmann nahe legt, mutmaßlich zunächst in aramäischer Sprahe mündlich tradiert, danach erfolgte die schriftliche Fixierung in Koine-Griechisch. Bereits am Ende des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts lag eine lateinische Übersetzung des NT vor, die ab 385 von Hieronymus bearbeitet wurde (unter Einschluss des AT). Diese Überarbeitung (Vulgata) wurde für Jahrhunderte die verbindliche Bibel der Katholischen Kirche.
Die Übersetzung Martin Luthers basiert auf der griechischen Textrevision des Erasmus von Rotterdam vom Ende des 15. Jahrhunderts. Diese lehnte sich an die „Übersetzung der 70 Gelehrten“ an, altgriechisch „Septuaginta“ genannt, die zwischen 250 und 100 vor der Zeitenwende in Alexandra entstand und sich an das hellenistische Judentum in Ägypten wandte. Für die Übersetzung des AT benutzte Luther sowohl die Septuaginta als auch das hebräische Original.
Der Luthertext wurde im Verlauf der letzten fünfhundert Jahre mehrfach überarbeitet (revidiert). Gegenwärtig ist die Textrevision des Jahres 1984 sehr verbreitet. Wegen ihrer besonderen sprachlichen Kraft, die an die Urübersetzung erinnert, wird auch die Revision von 1912 geschätzt. Im evangelisch-freikirchlichen Bereich sind vor allem die Elberfelder Bibel und die Schlachter-Bibel verbreitet, die sich um Urtextnähe bemühen, was häufig zu Lasten der Verständlichkeit geht.
Im modernen deutschen Katholizismus gilt die Einheitsübersetzung (der katholischen Bistümer) von Altem und Neuem Testament als Standardbibel. Sie verbindet eine relative Nähe zum Urtext mit einem verständlichen Deutsch. In der „Jerusalem-Bibel“ ist der Text der Einheitsübersetzung mit vielen kommentieren Hinweisen versehen, die sich um die historische Einordnung bemühen.
Die sowohl in evangelischen Landeskirchen als auch in der katholischen Kirche viel gelesene GUTE NACHRICHT versucht die Verbindung von Urtext und deutscher Alltagssprache, was leider nicht immer gelingt.
Im wissenschaftlichen Bereich hat sich die aus der reformierten Tradition der Schweiz hervorgegangene ZÜRCHER BIBEL überwiegend durchgesetzt.
Die Theologie
Religiöse Überzeugungen, die das Suchen des Menschen nach seinem Ursprung und Wesen reflektieren, sind legitim. Sie müssen sich aber mehreren Grundfragen stellen und plausible Antworten geben. Beispielsweise: Ist Religion eine Sache, in der es um diese Welt geht? Und wie geht sie mit wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen über das Entstehen von Weltraum, Planeten und Erde um (also der Evolution)? Ist das Wissen eine Grundvoraussetzung für den Glauben? Oder wird geglaubt, was man (noch) nicht wissen kann oder was man nicht wissen will? Die meisten Predigten bleiben darauf leider konkrete Antworten schuldig.
Doch die christliche Theologie kann nicht einfach für ihre Aussagen die Forderung des Glaubens voraussetzen, denn man kann nicht an den Glauben appellieren, wenn zunächst dessen Inhalte zu (er)klären sind. Man kann nicht sagen: Ich glaube, dass ich weiß, was ich meine, wenn ich glaube. Man muss zumindest verstehen, was man annimmt oder ablehnt, wenn man den Glauben annimmt oder ablehnt.
Der theologische Streit über diese und verwandte Fragen ist alt. Die moderne Theologie bzw. die philosophisch-theologische Religionskritik lässt sich vorrangig an den Werken der nachfolgend genannten Gelehrten festmachen.
Da ist Hermann Samuel Reimarus (1694 – 1768) zu nennen. Seine Veröffentlichung „Die Vernunftlehre als eine Anweisung zum richtigen Gebrauch der Vernunft in der Erkenntnis der Wahrheit“, die 1756 erschien, wies ihn als Schrittmacher einer kritischen Betrachtung sowohl der Bibel als auch der lutherischen Orthodoxie aus. Sein bedeutendstes Werk jedoch, die „Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes“ an der er von 1736 bis 1768 parallel zu seinem o.g. Werk gearbeitet hatte, wagte Reimarus zu Lebzeiten nicht zu veröffentlichen, weil er um seine bürgerliche Existenz als Gymnasialprofessor in Hamburg fürchtete.
Nach Reimarus’ Tod gelangte Gotthold Ephraim Lessing über dessen Kinder, mit denen er befreundet war, in den Besitz einer frühen Fassung der Apologie und begann ab 1774 stückweise Auszüge aus der Schrift zu veröffentlichen. Um die Familie Reimarus zu schützen, gab er jedoch nicht den Namen des Verfassers bekannt. Erst 1814, als Reimarus‘ Sohn Albert Hinrich die vollständige Handschrift der Apologie der Hamburger Bibliothek vermachte, bestand endgültige Klarheit über die Identität des Verfassers.
Die historisch-kritischen Methode zur Erforschung der Bibel fußt auf Reimarus‘ erwähnten Werken und wurde maßgeblich weitergeführt von Johann Salomo Semler („Abhandlung von freier Untersuchung des Kanons“, 1771) und erfuhr eine weitere Ausprägung durch Ferdinand Christian Baur („Die christliche Lehre. Eine Dogmengeschichte“, zwischen 1838 – 1847) erschienen.
Der Philosoph, Theologe und Staatslehrer Friedrich Schleiermacher (1768 – 1834) wollte die Notwendigkeit religiöser Besinnung aus der Situation des Gebildeten heraus aufzeigen. Dem vernünftig Denkenden sollte gerade in seiner Vernunft die zentrale Bedeutung des Christentums nachgewiesen werden. Seine grundlegenden Gedanken dazu hatte er in seiner Schrift: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ dargelegt. Diese erschien in drei Textfassungen in den Jahren 1799, 1806 und 1821. Schleiermachers Reden sind eine Art Rechtfertigung des Glaubens mit den Mitteln des Verstands. Und sie sind ein Plädoyer für den Vorrang des Wissens gegenüber dem nichtreflektierenden Glauben. Diese Schrift beeinflusst bis heute das theologische Denken. Sein Untertitel „Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern“ ist bewusst auch zum Untertitel dieser Pro Lesen-Themenwoche gewählt worden.
Die auf Reimarus zurückgehende historisch-kritische Bibelforschung findet bei dem Theologen David Friedrich Strauß eine erste Einlösung. In seinem Buch „Das Leben Jesu“, erschienen in zwei Bände in den Jahren 1835 und 1836, versuchte er, die zwischen Übernatürlichem und vernunftgemäßer Deutung angesiedelten Erzählungen über Jesus zu entmythologisieren. Er bestreitet die historische Existenz Jesu, weil sie nicht nachweisbar ist. Die neutestamentlichen Berichte über Wunder, Jungfrauengeburt, Kreuzigung bis zur Auferstehung und Himmelfahrt versteht er als gedichtete Mythen, die eine bestimmte Idee ausdrücken wollten: Sie seien zur Überbietung dessen, was im Alten Testament von den Propheten erzählt wurde, geschaffen worden, um Jesus als den verheißenen Messias darzustellen.
Strauß‘ Buch war von großem Einfluss auf die Junghegelianer, also die kritischen Hegelschüler, allen voran Ludwig Feuerbach, Bruno Bauer, Edgar Bauer, Arnold Ruge, Moses Hess und Karl Friedrich Köppen. Aber auch Max Stirner sowie Karl Marx und Friedrich Engels gehörten zu diesem Kreis. Strauß‘ „Leben Jesu“ gilt heute als Klassiker der Religionskritik. Zugleich stellte es die Leben-Jesu-Forschung auf eine neue Grundlage.
Den Philosophen Ludwig Feuerbach habe ich gerade erwähnt. Er verstand Religion als Anthropologie und vertrat eine Ethik des Diesseits. Dennoch sprach er der Religion eine wesentliche Funktion bei der Selbstreflexion des Menschen zu. In seinem Buch „Das Wesen des Christentums“ aus dem Jahr 1841 legt er seine Projektionstheorie ausführlich dar. Ihr zufolge ist Gott die Projektionsfläche aller Wünsche nach Unsterblichkeit, Vollkommenheit oder Glückseligkeit. Dennoch verwirft er nicht den Gottesgedanken als Theorem, weil dieser eine wichtige Rolle im humanistischen Verständnis des Menschen sei sowie im christlichen Idealbild von der Nächstenliebe.
Der Philosoph Max Stirner, bekannt durch sein Buch „Der Einzige und sein Eigentum“, reagierte auf Feuerbachs Schrift mit den Worten: „Unsere Atheisten sind fromme Leute.“
An der Tür zur theologischen Moderne stand der sehr eigenwillige Theologe Franz Overbeck (1837 - 1905). Er formulierte einen Merksatz, der bis heute als Gespenst durch theologische Fakultäten geistert: „Anders als durch Verwegenheit ist Theologie nicht wieder zu gründen.“ Mit diesem Satz brachte der Baseler Theologieprofessor die persönlichen Erkenntnisse aus seiner intensiven Beschäftigung mit Christentum und Theologie sowie mit der modernen Philosophie auf einen Nenner. Auch gegenüber seinem Freund Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), dem Philosophen und Religionskritiker, mit dem er im selben Haus wohnte, äußerte er sich ähnlich. 1873, drei Jahre nach seiner Ernennung zum Professor für Kirchengeschichte, veröffentlichte Overbeck sein wichtigstes Werk „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“.
Darin legte er seine Ansicht dar, dass das „historische Christentum“, das von den Kirchenvätern begründet worden sei, bereits nichts mehr mit der ursprünglichen Idee Christi zu tun gehabt habe (unabhängig davon, ob diese auf eine historisch nicht fassbare Person oder auf eine größere Gruppe innerjüdischer Reformer zurückzuführen ist) und auch nicht haben könne. Denn das „wahre Urchristentum“ habe sich im Gegensatz zu jeder Art von Geschichte, Kultur und Wissenschaft befunden; folglich sei eine „christliche Theologie“ unmöglich. Sie würde aufgepfropft bleiben, weil Stamm und Pfropfen von gänzlich verschiedener Natur seien.
Nach seiner Meinung war das Urchristentum individuell, spirituell und im Wesentlichen unorganisiert. Sein Inhalt sei nicht darauf angelegt gewesen, einmal nach wissenschaftlichen Kategorien systematisiert zu werden und seine heilgeschichtliche Perspektive sei kaum über die Naherwartung der Wiederkunft des Christus hinausgegangen. Nicht zuletzt sei es ihm unmöglich gewesen, eine institutionelle Rolle in einem weltlichen Staat, also im römischen Kaiserreich und seinen Nachfolgern, einzunehmen. Overbeck kritisiert in dieser Schrift sowohl die konservative („apologetische“) Theologie, die dogmatisch auf Glaubenssätzen beruht, als auch die liberale Theologie, die darum bemüht war, Glauben und Wissen in Einklang zu bringen. Beide verfehlen nach Overbeck das Wesen des Christentums.
Der evangelisch-reformierte Schweizer Theologe, Publizist, Verleger und langjährige Zürcher Pfarrer Niklaus Peter hat sich eingehend mit Franz Overbecks Theorien beschäftigt. Er versteht dessen Thesen keineswegs als Kapitulation des christlichen theologischen Denkens vor der Wirklichkeit, sondern sieht die Theologie des gesamten 19. Jahrhunderts als eine Auseinandersetzung mit der heranziehenden Moderne und als das Warten auf plausible Antworten, die seitens der kirchlichen Theologie jedoch ausgeblieben seien. Denn Overbeck habe seine Theologiekritik bewusst an Gelehrten wie David Friedrich Strauß (1808 – 1874; „Das Leben Jesu“), Ludwig Feuerbach (1804 – 1872; „Das Wesen des Christentums“) und Friedrich Nietzsche („Unzeitgemäße Gedanken“) festgemacht, auch wenn er im Fall der beiden Erstgenannten zu anderen Schlüssen gelangt sei. Niklaus Peter weist in seiner 1989 vorgelegten Dissertation „Im Schatten der Modernität“, die 1992 als überarbeitete Buchausgabe erschien, dezidiert nach, dass es Overbeck um die Sprachlosigkeit der christlichen Theologie im Zeitalter der Moderne gegangen sei.
Diese Sprachlosigkeit hält an. Sie ist sogar zunehmend von Irrationalität geprägt. Denn beide christlichen Kirchen verwechseln ihre jeweilige Wahrnehmung der Wirklichkeit mit der tatsächlichen Realität. Ihre Botschaften treffen nur ganz selten die zentralen Fragen des menschlichen Daseins. Vielmehr hat es den Anschein, als dass sie Umleitungsschilder aufstellten. So als ob man den Fragen und Problemen der Zeit mit frommen Sprüchen und dem Erzählen alter Legenden ausweichen könnte.
Seit den 1950er-Jahren versuchen die Kirchen durch Andachten in Hörfunk und Fernsehen ihre Botschaft zu verbreiten und auf diese Weise Mitglieder an sich zu binden und neue zu gewinnen. Dabei setzen sie falsche Hoffnungen auf die Technik. Denn auch eine Predigt, die per digitaler Technik ausgestrahlt wird, bleibt wirkungslos, wenn sie nicht das Leben in der Zielgruppe verständlich und plausibel thematisiert.
Darum ist es kein Wunder, dass der Besuch der Gottesdienste kontinuierlich nachlässt, dass die Austrittszahlen steigen. Es sterben mehr Mitglieder als neue getauft werden. Der bekannt gewordene sexuelle Missbrauch durch Pfarrer erweist sich als zusätzlicher Beschleuniger für den anhaltenden Exodus.
Mittlerweile reagieren die evangelische und katholische Amtskirche mit vermeintlich neuen Rezepten auf den sich abzeichnenden Nieder- und Untergang. So locken sie die Menschen beispielsweise mit einer Schlagerrevue in die Gemeindehäuser. Pfarrer schlüpfen in die Rolle eines Kneipenwirts und versuchen sich in Thekengesprächen. Oder veranstalten einen Gottesdienst, in dem sie Harry Potter-Kostüme tragen. Manche halten die kommerziellen Netze (Facebook, Instagram, Tiktok) für geeignet, um Grundfragen der Existenz zur Sprache zu bringen – ausgerechnet in der Nachbarschaft von Bildungsfernen, Päderasten und politischen Extremisten, den typischen Nutzern dieser Medien. Die Zuhörer werden sich danach möglicherweise an gern gehörte alte Hits erinnern können, an den Geschmack eines perfekt gezapften Bieres sowie an mehr oder weniger originelle Verkleidungen der Pfarrerschaft. Vom Eigentlichen, der Sache mit Gott, wird jedoch nichts zurückbleiben. Denn beide Kirchen tun auf diese Weise kund, dass sie diesbezüglich nichts Substanzielles mehr anzubieten haben.
Dabei müssten sie es besser wissen. Dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann (1884 - 1976) beispielsweise war klar, „dass wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da sich die christlichen Quellen dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und andere Quellen über Jesus nicht existieren.“ Folglich hätten sich damit viele Inhalte christlicher Frömmigkeit erledigt. Etwa die Geschichten von der Jungfrauengeburt und der Himmelfahrt Christi. Oder die Vorstellung von einer Endzeit. Ebenso die Erwartung eines auf den Wolken des Himmels herabkommenden geistlichen und weltlichen Erlösers. Man könne nicht elektrisches Licht und einen Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Für den modernen Menschen sei die Vorstellung von dem göttlichen Geist als einem übernatürlichen Wesen unverständlich. Unverständlich auch die Lehre von der stellvertretenden Erlösung durch das Sterben Christi am Kreuz und dessen Auferstehung. Und letztlich auch die Erwartung, der verstorbene Mensch würde in eine himmlische Sphäre versetzt und erhielte dort einen geistlichen Leib.
Einer Familie, die Opfer von Miethaien wurde und in eine Notunterkunft abgeschoben wurde, fehlt eine elementare Existenzgrundlage im Diesseits. Sicherlich können Caritas und Diakonie in solchen Fällen zumindest vorübergehend etwas helfen und sie tun es zumeist auch. Vermutlich wird diese Art der Zuwendung zu den Menschen der zentrale Kern des Christentums werden müssen, wenn die Kirchen als Großorganisationen überleben wollen. Die Bibel wird dann lediglich noch eine Hintergrundrolle einnehmen. Etwa als Summe weisheitlicher Erfahrungen, die durch sämtliche Zeitalter hindurch beispielhaft seien und als Grundlagen für eine besondere Ethik herangezogen werden können.
Der evangelische Theologe Friedrich Gogarten (1887 - 1967) zog aus alledem das Fazit: „Wer das nicht wahrhaben will, will in einer Welt leben, die es nicht mehr gibt.“ Und er forderte von der Kirche intellektuelle Redlichkeit bei ihrer Verkündigung.
Davon war auch Pfarrer Dietrich Bonhoeffer (1906 - 1945) überzeugt. Er gelangte sogar zu einem noch radikaleren Urteil: „Die Religion als Ergänzung der Wirklichkeit durch Gott, als eine besondere Provinz am Rande des Lebens, ist ein für alle Mal vorüber. […] Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt, wie sie geschaffen, erhalten, in Gesetze gefasst, versöhnt und erneuert wird, geht es doch.“ Unter dem Eindruck des zunehmenden Nazi-Terrors verschärfte er seine weltliche Predigt. „Die Kirche darf nur gregorianisch singen, wenn sie zur gleichen Zeit für Juden und Kommunisten schreit.“ Und er resümierte: „Entweder betrifft das, was der christliche Glaube sagt, diese unsere Wirklichkeit, oder der christliche Glaube hat uns nichts mehr zu sagen.“
Unter dem Leitgedanken „Christus und die mündig gewordene Welt“ fasste Bonhoeffer seine Überlegungen so zusammen:
„Ich will darauf hinaus, dass man Gott nicht noch an irgendeiner allerletzten heimlichen Stelle hineinschmuggelt, sondern dass man die Mündigkeit der Welt und des Menschen einfach anerkennt, dass man den Menschen in seiner Weltlichkeit nicht «madig macht», sondern ihn an seiner stärksten Stelle mit Gott konfrontiert, dass man auf alle pfäffischen Kniffe verzichtet.«
Zunächst stand für Bonhoeffer eine geschichtsphilosophische und theologiegeschichtliche Analyse im Vordergrund seiner Beschreibung des Christentums. Nun geht es dem Theologen um ein tieferes Erfassen des Christusereignisses selbst. Und er fragt: „Wer ist er für uns heute?“
„Wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, dass wir in dieser Welt leben müssen - «etsi deus non daretur» (so als ob es Gott nicht geben würde). Und eben dies erkennen wir - vor Gott! Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis.“
Die Formulierung «etsi deus non daretur» geht auf den niederländischen Philosophen, Theologen und Rechtsgelehrten Hugo Grotius (1583 - 1645) zurück. Der frühe Aufklärer aus der Zeit des Dreißigjähren Krieges sah im Streben nach Gerechtigkeit einen ursprünglichen und eigenständigen Prozess des menschlichen Seins, der auch wirken würde, falls (ein) Gott nicht existierte.
Bonhoeffer führt weiter aus:
„So führt uns unser Mündigwerden zu einer wahrhaftigeren Erkenntnis unserer Lage vor Gott. Gott gibt uns zu wissen, dass wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verlässt. […] Der Gott, der uns in der Welt leben lässt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen. Vor und mit Gott leben wir ohne Gott.
Der „Christ“ erfährt im Unterschied zum bloß «Religiösen» die Umkehrung von allem, was der religiöse Mensch von Gott erwartet. Der Mensch wird aufgerufen, das Leiden Gottes an der gottlosen Welt mitzuleiden. Er muss also wirklich in der gottlosen Welt leben und darf nicht den Versuch machen, ihre Gottlosigkeit irgendwie religiös zu verdecken, zu verklären; er muss «weltlich» leben und nimmt eben darin an dem Leiden Gottes teil. Er darf «weltlich» leben, d. h. er ist befreit von den falschen religiösen Bindungen und Hemmungen. Christsein heißt nicht in einer bestimmten Weise religiös sein, sondern es heißt Mensch sein. Nicht einen Menschentypus, sondern den Menschen schafft Christus in uns. Nicht der religiöse Akt macht den Christen, sondern das Teilnehmen am Leiden Gottes im weltlichen Leben. Jesus ruft nicht zu einer neuen Religion, sondern zum Leben.“
In einer theologischen Skizze, die er vor seiner Hinrichtung in Grundzügen verfasst, wird noch einmal deutlich, wie Bonhoeffer durch die These Feuerbachs und des Marxismus angeregt und bedrängt worden ist, die besagt, dass Theologie nur Anthropologie, Religion ein Ausdruck jenseitiger Erfüllungsversprechen diesseitiger Wünsche und das Christentum folglich nur Überhöhung menschlicher Nöte sei.
Bonhoeffer dreht diese These um. Für Feuerbach delegiert sich der Mensch an einen allmächtigen Gott; er möchte die Knechte eines despotischen Gottes zu Atheisten machen, die «Kandidaten des Jenseits zu Studenten des Diesseits». Bonhoeffer sieht in der christlichen, biblischen Gotteserfahrung das Gegenteil: nicht der Mensch delegiert sich an einen allmächtigen Gott, sondern Gott delegiert sich in der Ohnmacht seines Leidens an den Menschen. Der allmächtige deus ex machina der Religionen ist für Bonhoeffer ebenso wie für Feuerbach ein Stück prolongierter, also verlängerter Welt.
Bonhoeffer schließt daraus, dass die Kirche, die er im Nationalsozialismus unwiederbringlich kompromittiert sah, sich gründlich verändern müsse: Wörtlich:
„Um einen Anfang zu machen, muss sie alles Eigentum den Notleidenden geben. Die Pfarrer müssen ausschließlich von den freiwilligen Gaben der Gemeinden leben, eventuell einen weltlichen Beruf ausüben. Sie muss an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens teilnehmen, nicht herrschend, sondern helfend und dienend. Sie muss den Menschen aller Berufe sagen, was ein Leben mit Christus ist, was es heißt, «für andere da zu sein». Nicht durch Begriffe und Lehren, sondern durch «Vorbild» bekommt ihr Wort Nachdruck und Kraft.“
Bonhoeffers persönlicher Freund und Biograf Eberhard Bethge resümiert am Ende dieser Lebensbeschreibung:
„Dietrich Bonhoeffer hat sich nicht ausmalen können, dass seine Kirche eine Restauration erfahren könnte, wie sie nach 1945 eingetreten ist. Dieser restaurierten Kirche müssen seine Vorschläge naiv erscheinen. Dennoch spürt jeder, dass er nicht weit von der Wahrheit war und dass die Wirklichkeit einmal so aussehen könnte, wie sie Bonhoeffer vorschwebte.
Man merkt Bonhoeffers Texten an, dass ihr Verfasser im Begriff war, angesichts der Realitäten der Welt seinen Glauben zu verlieren. Nahezu in jedem Satz kämpft er gegen den Verlust an. Wie er sich endgültig entschieden hätte, falls er das NS-Regime überlebt hätte, weiß man nicht.
Bonhoeffers These von der endenden Religion wird nach 1945 heftig attackiert. Bonhoeffers «Religion» dürfte immer gegen solche Religion stehen, die zur Selbstbehauptung auf Kosten anderer wird. Kritik richtet sich bereits zu dessen Lebenszeit auch gegen dessen vermeintliche Vernichtung von Kult, Frömmigkeit und Gottesdienst. Doch diese Vorhaltungen sieht er durch seine Beschreibung des Glaubens entkräftet.
Im Jahr 1963 veröffentlichte der anglikanische Theologe John A. T. Robinson, der auch Bischof von Woolwich war, das Buch „Honest to God“. In der deutschen Übersetzung lautete es „Gott ist anders“. Darin nahm er Gedanken von Paul Tillich (Theologie des Seins oder Nichtseins), Rudolf Bultmann (Entmythologisierung) und Dietrich Bonhoeffer (Religionsloses Christentum) auf und entwickelte daraus einen eigenen theologischen Ansatz. Die Vorstellung eines außerhalb bzw. jenseitig agierenden Gottes lehnte Robinson ab. Stattdessen wird Gott von ihm als „in der Tiefe der Existenz“ anwesend und erfahrbar gedacht. Gott ist für ihn „der Grund des Seins“. Robinson war neben Harvey Cox der bedeutendste Vertreter der angelsächsisch-amerikanischen säkularen Theologie der 1960er Jahre, die in Deutschland als „Gott-ist-tot-Theologie“ bezeichnet wird.
Der evangelische Theologe Herbert Braun (1903 - 1991), ein Bultmann-Schüler, verstand Gott nicht als einen für sich Existierenden: „Gott ist das Woher meines Umgetriebenseins. Gott ist das Woher meines Geborgen- und meines Verpflichtetseins vom Mitmenschen her. Gott ist dort, wo ich in Pflicht genommen, wo ich engagiert bin; engagiert im unbedingten »Ich darf« und »Ich soll«. Der Mensch als Mensch, der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit, impliziert Gott“. Für Braun ist die Anthropologie die Konstante in den neutestamentlichen Texten, die Christologie hingegen lediglich eine Variable. Damit fordert er den Christen auf, wesentlich zu werden und sich zu seinem Menschsein zu bekennen.
Der Hamburger Pastor Paul Schulz wurde in den 1970er Jahren bekannt als „Hamburger Kirchenrebell“ oder als „Ketzerpastor“. Wegen seiner Leugnung entscheidender christlicher Glaubenslehren wurde er zunächst 1975 vom Dienst beurlaubt und anschließend wurde von der VELKD ein Lehrbeanstandungsverfahren gegen ihn in die Wege geleitet. Das war der erste Ketzerprozess in der lutherischen Kirche gegen einen amtierenden Pastor nach dem Ersten Weltkrieg. Indiziert für diesen Prozess war damals sein Buch „Ist Gott eine mathematische Formel?“. Dieser Glaubensprozess endete 1979 mit dem Verlust aller Ordinationsrechte. Lediglich sein theologischer Doktorgrad behielt Gültigkeit.
Im Vorwort zu dem erwähnten Buch, das ihm zum Verhängnis wurde, schreibt Schulz:
„Immer bedrohender stellt sich die Frage, ob wir den Begriff «Gott» überhaupt noch gebrauchen dürfen. Die Parole «Gott ist tot» hat uns schon ziemlich in die Enge getrieben. Die Feststellung eines Theologieprofessors «Es gibt einen Bodensee, es gibt einen Himalaja, Gott gibt es nicht» stellt uns an die Wand.
Vom theologischen Laien werden tiefere Zusammenhänge derartiger Aussagen kaum durchschaut. Mangelnde Informationen lassen ihn Gründe oder gar Begründungen solcher theologischen Positionen bestenfalls ahnen. So tritt bei ihm an die Stelle einer sachlichen Auseinandersetzung oft ein Entsetzen, das in kompromissloses Bekennen umschlägt.
Der theologische Fachmann gerät dabei ins Zwielicht. Seine Notlage, von Gott nicht mehr in traditionellen Formeln reden zu können, bleibt unverstanden. Seine Versuche, jene Vorstellungen von Gott, die die «Väter des Glaubens» seit über 3000 Jahren entwickelt haben, in unsere Zeit hinein umzusetzen, stoßen auf erbitterten Widerstand. Damit ist unsere Aufgabe gestellt:
Es gilt, die Gründe dafür einsichtig zu machen, dass der Theologe heute angesichts der modernen Naturwissenschaften von Gott nicht mehr in althergebrachten Formeln zu reden vermag.
Es gilt zugleich, ein reales Gottesbild zu entwerfen, das den immanenten Strukturen der Naturwissenschaften angemessen ist.“
Solche Überlegungen führen uns zum letzten der heute vorgestellten Theologen. Nämlich zum niederländischen Pfarrer Klaas Hendrikse (1947 – 2018). Er war evangelischer Pfarrer in der holländischen Gemeinde Middelburg. Sein Buch «Glauben an einen Gott, den es nicht gibt. Manifest eines atheistischen Pfarrers» löste im Jahr 2007 ein großes Echo aus. Seine theologischen Ansätze lassen sich so beschreiben:
Darf ein Pfarrer nicht an Gott glauben - zumindest nicht an den personalen Gott, wie er traditionell verkündigt wird? Darf ein Pfarrer das auch sagen?
Klaas Hendrikse schildert in dem Buch seine eigene Entwicklung vom Nichtgläubigen zum atheistischen Gemeindepfarrer. Authentisch und überzeugend legt er dar, warum er glaubt, dass Gott sich in menschlichen Beziehungen ereignet und dass «Glaube» mehr mit dem Leben als mit Religion zu tun hat. All jenen, die glauben möchten, aber wegen der gängigen Rede von Gott keinen Zugang zu Gott finden, zeigt Klaas Hendrikse so einen Weg auf, sich von vorgegebenen Gottesvorstellungen zu lösen und eine neue Form des Glauben zu finden.
In seinem Manifest versuchte er den Zweifeln und Fragen der heutigen Menschen nicht mit Antworten aus vergangenen Jahrhunderten zu begegnen. Er war überzeugt, dass die Kirchen die Zweifel am traditionellen Gottesverständnis, die auch bei vielen kirchentreuen Christen da sind, ernst nehmen und sie als Teil des Glaubens integrieren müssen - auch im Gottesdienst und in der Seelsorge.
Wer von der Frage nach Gott nicht lassen mag, sei auf den hilfreichen Gottesbegriff des skeptischen Philosophen Wilhelm Weischedel (1905 - 1975) verwiesen. In seinem Hauptwerk „Der Gott der Philosophen“ (erschienen 1971/72) widerspricht dieser allen Versuchen, Gott substanzhaft zu denken. Gott oder das Göttliche seien lediglich das Vonwoher der Fraglichkeit bei der Suche nach dem Sinn menschlichen Lebens. Je tiefer man in diese Suche einsteige, umso mehr nehme auch die Fraglichkeit zu. Dies führe in letzter Konsequenz dazu, dass die Frage nach Gott offenbleiben müsse, letztlich nicht beantwortet werden könne.
Die Akzeptanz der Kirche
Seit der Besuch der kirchlichen Sonn- und Feiertagsgottesdienste für Christen nicht mehr selbstverständlich ist, versuchen sich die Kirchen an anderen Formen der Vermittlung. Insbesondere Andachten im öffentlich-rechtlichen Rundfunk galten lange als Alternative bzw. Ergänzung. Doch die Anzahl der Zuhörer und Zuschauer ist rückläufig. Das gilt auch für die Akzeptanz der kirchlichen Presse. Zwar veröffentlichen die Kirchen keine genauen Zahlen. Doch alles spricht dafür, dass sich das Hörer-, Zuschauer- und Leserverhalten analog der allgemeinen Abwendung von der Kirche verhält.
Mit Details zu dem Phänomen habe ich mich bereits unter dem Schlagwort Sprachlosigkeit beschäftigt. Jetzt will ich explizit auf die evangelische Publizistik eingehen.
Obwohl die evangelische Kirche von den modernen Medien wenig versteht und insbesondere die Folgen kommerzieller, sogenannter „sozialer Medien“ nicht einschätzen kann oder will, verspricht sie sich sowohl vom Rundfunk (öffentlich-rechtlich und privat) als auch von „social Media“ die Lösung ihrer Vermittlungsprobleme. Dabei lässt sie die Erkenntnisse ihrer eigenen Medienpioniere (z.B. Eberhard Stammler, Gerhard Stoll, Robert Geisendörfer, Eberhard Maseberg, Reinhard Henkys oder Hans-Wolfgang Heßler) außer Acht. Die hatten herausgefunden, dass für die sogenannte Verkündigung in den Medien einer säkularen Gesellschaft ähnliche Voraussetzungen gelten wie für die Predigt von der Kanzel. Die Botschaft muss plausibel und ihre Botschafter müssen glaubwürdig sein. Hippe Moderatoren und Influencer mögen einem bestimmten Teil des Publikums gelegentlich Anerkennung entlocken, aber sie können keine nachhaltige Wirkung für die Kirche entfachen.
Die 1949 gegründete Wochenzeitung „Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt“ wies bis in die frühen 1960er Jahre höhere Verkaufszahlen auf als der säkulare Konkurrent „Die Zeit“. In der damals noch vielfältigen Landschaft der Kulturzeitschriften waren die „Evangelischen Kommentare“ ein protestantisches Flaggschiff. Mit dem 1979 veröffentlichten „Publizistischen Gesamtplan der EKD“ sollten alte und erfolgreiche Tugenden reaktiviert werden. In dem Plan hieß es: „Evangelische Publizistik zielt wie alles kirchliche Handeln auf Freiheit und Zuspruch. Sie braucht auch selbst Zuspruch und Freiheit." Und an anderer Stelle: „Publizistik kann also etwas gegen die Ohnmachtsgefühle der Menschen bewirken. Als eine Weise kirchlichen Handelns kann evangelische Publizistik es sich leisten auszusprechen, was andere verschweigen. Sie kann Wünsche und Sehnsüchte der Menschen aufnehmen, ohne sie auszunutzen. Das publizistische Handeln der Kirche wird darüber hinaus stellvertretendes Handeln sein, das sich im Namen jener äußert, die keinen Weg zur Öffentlichkeit finden.“
Allerdings konstatierte der damalige Direktor des GEP, Norbert Schneider, bereits wenig später: „Wir haben keine Medienpolitik, sondern eine Medienposition."
Tatsächlich rieb sich diese Positionierung, der es an politischer Kraft mangelte, regelmäßig in dilettantischer Weise an der Wirklichkeit. Nicht zuletzt an der innerkirchlichen. Das "Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt“ musste ständig gegen Angriffe der Evangelikalen verteidigt werden. Der Evangelische Pressedienst (epd) stand unter Dauerbeschuss des evangelikalen „Informationsdienstes der Evangelischen Allianz IDEA“. Bei diesen Konflikten fehlte es vielen kirchenleitenden Personen am notwendigen Mut, wenn die Aussage über die Aufgabe der evangelischen Publizistik in die Praxis umgesetzt werden sollte.
Zu Beginn der 2000er Jahre wurde der Anspruch, sich erlauben zu können auszusprechen, was andere verschweigen, zumindest inoffiziell aufgegeben. Das GEP wurde vom publizistischen Avantgardisten zu einem Dienstleister herabgestuft, dem faktisch die publizistische Eigeninitiative entzogen wurde. Bereits 1995 war „medium – Fachzeitschrift für Hörfunk, Fernsehen, Film und Presse“ eingestellt worden. 2003 folgte „medien praktisch“, eine anerkannte medienpädagogische Zeitschrift, was vor dem Hintergrund des sich rasant entfaltenden Internets unverständlich war. Aber es traf auch die evangelische Kinderzeitschrift „Benjamin“, was angesichts der Vermittlungsprobleme, auf welche der christliche Religionsunterricht zunehmend stößt, Irritationen auslöste. Der Informationsdienst „epd Entwicklungspolitik“ wurde mit dem katholischen Pendant zusammengelegt, was die Wirkkraft nicht verdoppelte. Eingestellt wurde auch der Betrieb der „Evangelischen Medienakademie“ und der der „Evangelischen Journalistenschule“.
Die evangelische Kirche, die nach dem Zweiten Weltkrieg ein großes bildungsbürgerliches Publikum an sich binden konnte, auch wenn dieses das Glaubensbekenntnis eher selten mit innerer Überzeugung mitsprach, verliert nach und nach die Intellektuellen.
Das Institut für Demoskopie Allensbach ermittelte 2021 desillusionierende Zahlen über eine Kirche im Niedergang.
Der Anteil derjenigen, die angeben, dass sie zumindest gelegentlich in die Kirche gingen, ist seit den 60er Jahren von rund 60 Prozent auf heute unter 30 Prozent zurückgegangen. Die meisten Mitglieder der beiden großen Kirchen sagten entweder, sie fühlten sich ihrer Kirche durchaus verbunden, stünden ihr in vielen Dingen aber kritisch gegenüber, oder sie fühlten sich zwar als Christ, die Kirche bedeute ihnen aber nicht viel. Immerhin fast jeder siebte Protestant meinte sogar, er wisse nicht, was er glauben solle, oder er bräuchte gar keine Religion.
Wie sehr sich die religiöse Orientierung der Deutschen in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat, zeigen die Antworten auf eine Frage, bei der konkreter nachgefragt wurde, an was die Menschen glauben. Dazu wurden Karten mit verschiedenen möglichen Glaubensinhalten vorgelegt. 61 Prozent der Befragten gaben bei dieser Frage an, sie glaubten, dass es eine Seele gebe. 52 Prozent meinten, dass es Wunder gibt, ebenfalls 52 Prozent gaben den Glauben zu Protokoll, dass „in der Natur alles eine Seele hat, auch Tiere und Pflanzen“ – ein Hinweis darauf, dass die Ökologiebewegung, die viele religiöse Elemente enthält, derzeit der wahrscheinlich wichtigste Wettbewerber der christlichen Kirchen ist. Weitere 52 Prozent glaubten an schicksalhafte Fügungen. Erst an fünfter Stelle in der Rangordnung, genannt von 46 Prozent und damit weniger als der Hälfte der Befragten, folgte die Angabe „Ich glaube an Gott“.
Vor allem die Kerninhalte des christlichen Glaubens werden schon seit längerer Zeit nur noch von einer Minderheit der Bevölkerung vertreten. Dass Jesus der Sohn Gottes ist, glaubten 1986 in Westdeutschland 56 Prozent der Bevölkerung, heute sind es noch 37 Prozent. Der Glaube an die Dreifaltigkeit ist in Westdeutschland in der gleichen Zeit von 39 auf 27 Prozent zurückgegangen, der an die Auferstehung der Toten von 38 auf 24 Prozent.
Trotz der deutlich zurückgehenden Akzeptanz religiöser Sendungen im Rundfunk sind die Kirchen davon überzeugt, dass der Zugang zu den Medien der Verbreitung christlicher Glaubensinhalte dient. Auch deshalb drängen sie geradezu in kommerzielle Medien wie Facebook, Instagram und Tiktok. Dass in der Bevölkerung längst ein synkretistischer Glaube vorherrscht, der wenig Gemeinsamkeiten mit christlichen Grundüberzeugungen hat, verdrängen sie. Sie führen einen Kampf um die ideale, zumeist technische, Vermittlung und vernachlässigen die Inhalte. Pfarrerinnen und Pfarrer, denen es bereits nicht gelungen war, Menschen auf der Kanzel zu überzeugen und als Mitglieder in der Kirche zu halten, gestalten Sendungen in Hörfunk- und Fernsehen. Das Wenige, was an christlicher Publizistik übrig geblieben ist, trägt den Charakter einer Beliebigkeitspresse, so die evangelische Zeitschrift „Chrismon“. Sie sollte Ersatz für das erwähnte „Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt DS“ sein, das aus finanziellen Gründen eingestellt wurde. Doch „Chrismon“ muss sich aus denselben finanziellen Gründen, die eine leistungsfähige Redaktion und ein wirkungsvolles Marketing des DS nicht gestatten, mit oberflächlichen Schlagzeilen und dünnen Inhalten begnügen. Dadurch erweisen sich Rückverweise auf den Herausgeber als Eingeständnis von Fehlanalysen und Ohnmacht.
Der offizielle Protestantismus hat erkennbar sein Selbstverständnis aus den 1960er bis zu den 1980er Jahren, nämlich stellvertretend für die Machtlosen deren Anliegen zur Sprache zu bringen und solidarisch zu handeln, verloren. Und er strebt eine Änderung auch gar nicht an, sondern richtet sich auf seine künftige Nichtexistenz ein.
Der Systemanalytiker Niklas Luhmann erkannte in der Religion vor allem die Funktion, Komplexität zu reduzieren. Das kann manchmal notwendig sein. In einer hochkomplexen Gesellschaft wäre jedoch das Gegenteil notwendig. Allein die Digitalisierung verdichtet den einzelnen Menschen auf ein Konsumentenprofil und allzu häufig auch auf einen willenlosen Mitläufer inhumaner Ideologien.
Der blinde Aktionismus der Kirchen bei Äußerlichkeiten, etwa Gottesdiensten in Kneipen, sowie die weitgehende Scheu vor konkreten Stellungnahmen zu gesellschaftlichen und politischen Vorgängen, bestätigen den Verdacht, dass auch die Kirchen der Reformation ihre proklamierten Adressaten, also die Menschen, vergessen haben.
Mitschnitt eines Vortrags von Klaus Philipp Mertens ©
am 19.12.2024 im städtischen Bibliothekszentrum Frankfurt-Sachsenhausen