„Anders als durch Verwegenheit ist Theologie nicht wieder zu gründen.“ Mit diesem Satz brachte der Baseler Theologieprofessor Franz Overbeck (1837 - 1905) die persönlichen Erkenntnisse aus seiner intensiven Beschäftigung mit Christentum und Theologie sowie mit der modernen Philosophie auf einen Nenner. Auch gegenüber seinem Freund Friedrich Nietzsche (1844 - 1900), dem Philosophen und Religionskritiker, mit dem er im selben Haus wohnte, äußerte er sich ähnlich. 1873, drei Jahre nach seiner Ernennung zum Professor für Kirchengeschichte, veröffentlichte Overbeck sein wichtigstes Werk „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie“.
Darin legte er seine Ansicht dar, dass das „historische Christentum“, das von den Kirchenvätern begründet worden sei, bereits nichts mehr mit der ursprünglichen Idee Christi zu tun gehabt habe (unabhängig davon, ob sie auf eine historisch nicht fassbare Person oder auf eine größere Gruppe innerjüdischer Reformer zurückzuführen ist) und auch nicht haben könne. Denn das „wahre Urchristentum“ habe sich im Gegensatz zu jeder Art von Geschichte, Kultur und Wissenschaft befunden; folglich sei eine „christliche Theologie“ unmöglich. Sie würde aufgepfropft bleiben, weil Stamm und Pfropfen von gänzlich verschiedener Natur seien. Nach seiner Meinung war das Urchristentum individuell, spirituell und im Wesentlichen unorganisiert. Sein Inhalt sei nicht darauf angelegt gewesen, einmal nach wissenschaftlichen Kategorien systematisiert zu werden und seine heilgeschichtliche Perspektive sei kaum über die Naherwartung der Wiederkunft des Christus hinausgegangen. Nicht zuletzt sei es ihm unmöglich gewesen, eine institutionelle Rolle in einem weltlichen Staat, also im römischen Kaiserreich und seinen Nachfolgern, einzunehmen. Overbeck kritisiert in dieser Schrift sowohl die konservative („apologetische“) Theologie, die dogmatisch auf Glaubenssätzen beruht, als auch die liberale Theologie, die darum bemüht war, Glauben und Wissen in Einklang zu bringen. Beide verfehlten nach Overbeck das Wesen des Christentum.
Der evangelisch-reformierte Schweizer Theologe, Publizist, Verleger und langjährige Zürcher Pfarrer Niklaus Peter hat sich eingehend mit Franz Overbecks Theorien beschäftigt. Er versteht dessen Thesen keineswegs als Kapitulation des christlichen theologischen Denkens vor der Wirklichkeit, sondern sieht die Theologie des gesamten 19. Jahrhunderts als eine Auseinandersetzung mit der heranziehenden Moderne und als das Warten auf plausible Antworten, die seitens der kirchlichen Theologie jedoch ausgeblieben seien. Denn Overbeck habe seine Theologiekritik bewusst an Gelehrten wie David Friedrich Strauß (1808 – 1874; „Das Leben Jesu“), Ludwig Feuerbach (1804 – 1872; „Das Wesen des Christentums“) und Friedrich Nietzsche („Unzeitgemäße Gedanken“) festgemacht, auch wenn er im Fall der beiden Erstgenannten zu anderen Schlüssen gelangt sei. Niklaus Peter weist in seiner 1989 vorgelegten Dissertation „Im Schatten der Modernität“, die 1992 als überarbeitete Buchausgabe erschien, dezidiert nach, dass es Overbeck um die Sprachlosigkeit der christlichen Theologie im Zeitalter der Moderne gegangen sei.
Diese Sprachlosigkeit hält an. Sie ist sogar zunehmend von Irrationalität geprägt. Denn beide christlichen Kirchen verwechseln ihre jeweilige Wahrnehmung der Wirklichkeit mit der tatsächlichen Realität. Ihre Botschaften treffen nur ganz selten die zentralen Fragen des menschlichen Daseins. Vielmehr hat es den Anschein, als dass sie Umleitungsschilder aufstellten. So als ob man den Fragen und Problemen der Zeit ausweichen könnte.
Seit den 1950er-Jahren versuchen die Kirchen, durch Andachten in Hörfunk und Fernsehen ihre Botschaft zu verbreiten und auf diese Weise Mitglieder an sich zu binden und neue zu gewinnen. Dabei übersehen sie, dass die Vermittlung vom Inhalt zu unterscheiden ist. Auch eine Predigt, die per digitaler Technik ausgestrahlt wird, bleibt wirkungslos, wenn sie nicht das Leben in der Zielgruppe thematisiert. Darum ist es kein Wunder, dass der Besuch der Gottesdienste kontinuierlich nachlässt, dass die Austrittszahlen steigen. Es sterben mehr Mitglieder als neue getauft werden. Der bekannt gewordene sexuelle Missbrauch durch Pfarrer erweist sich als zusätzlicher Beschleuniger für den anhaltenden Exodus.
Mittlerweile reagieren die evangelische und katholische Amtskirche mit vermeintlich neuen Rezepten auf den sich abzeichnenden Nieder- und Untergang. So locken sie die Menschen beispielsweise mit einer Schlagerrevue in die Gemeindehäuser. Pfarrer schlüpfen in die Rolle eines Kneipenwirts und versuchen sich in Thekengesprächen. Oder veranstalten einen Gottesdienst, in dem sie Harry Potter-Kostüme tragen. Manche halten die asozialen Netze für geeignet, um Grundfragen der Existenz zur Sprache zu bringen – in der Naschbarschaft von Bildungsfernen, Päderasten und politischen Extremisten, den typischen Nutzern. Die Zuhörer werden sich danach möglicherweise an gern gehörte alte Hits erinnern können, an den Geschmack eines perfekt gezapften Bieres sowie an mehr oder weniger originelle Verkleidungen der Pfarrerschaft. Vom Eigentlichen, der Sache mit Gott, wird jedoch nichts zurückbleiben. Denn beide Kirchen tun auf diese Weise kund, dass sie diesbezüglich nichts Substanzielles mehr anzubieten haben.
Dabei müssten sie es besser wissen. Dem evangelischen Theologen Rudolf Bultmann (1884 - 1976) beispielsweise war klar, „dass wir vom Leben und von der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da sich die christlichen Quellen dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und andere Quellen über Jesus nicht existieren.“ Folglich hätten sich damit viele Inhalte christlicher Frömmigkeit erledigt. Etwa die Geschichten von der Jungfrauengeburt und der Himmelfahrt Christi. Oder die Vorstellung von einer Endzeit. Ebenso die Erwartung eines auf den Wolken des Himmels herabkommenden geistlichen und weltlichen Erlösers. Man könne nicht elektrisches Licht und einen Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben. Für den modernen Menschen sei die Vorstellung von dem göttlichen Geist als einem übernatürlichen Wesen unverständlich. Unverständlich auch die Lehre von der stellvertretenden Erlösung durch das Sterben Christi am Kreuz und dessen Auferstehung. Und letztlich auch die Erwartung, der verstorbene Mensch würde in eine himmlische Sphäre versetzt und erhielte dort einen geistlichen Leib. Einer Familie, die Opfer von Miethaien wurde und in eine Notunterkunft abgeschoben wurde, fehlt eine elementare Existenzgrundlage. Sicherlich können Caritas und Diakonie in solchen Fällen zumindest vorübergehend etwas helfen und sie tun es auch. Vermutlich wird diese Art der Hinwendung zu den Menschen der zentrale Kern des Christentums werden müssen, wenn die Kirchen als Großorganisationen überleben wollen. Der Bibel wird dann lediglich noch eine Hintergrundrolle bleiben. Etwa als Summe weisheitlicher Erfahrungen, die durch sämtliche Zeitalter hindurch beispielhaft sein können.
Friedrich Gogarten (1887 - 1967), ebenfalls evangelischer Theologe, zog daraus das Fazit: „Wer das nicht wahrhaben will, will in einer Welt leben, die es nicht mehr gibt.“ Und er forderte von der Kirche intellektuelle Redlichkeit bei ihrer Verkündigung (also das Gegenteil von Populismus). Davon war auch Pfarrer Dietrich Bonhoeffer (1906 - 1945) überzeugt. Er gelangte sogar zu einem noch radikaleren Urteil: „Die Religion als Ergänzung der Wirklichkeit durch Gott, als eine besondere Provinz am Rande des Lebens, ist ein für alle Mal vorüber. […] Nicht um das Jenseits, sondern um diese Welt, wie sie geschaffen, erhalten, in Gesetze gefasst, versöhnt und erneuert wird, geht es doch.“ Unter dem Eindruck des zunehmenden Nazi-Terrors verschärfte er seine weltliche Predigt. „Die Kirche darf nur gregorianisch singen, wenn sie zur gleichen Zeit für Juden und Kommunisten schreit.“ Und er resümierte: „Entweder betrifft das, was der christliche Glaube sagt, diese unsere Wirklichkeit, oder der christliche Glaube sagt uns überhaupt nichts.“
Der evangelische Theologe Herbert Braun (1903 - 1991), ein Bultmann-Schüler, verstand Gott nicht als einen für sich Existierenden: „Gott ist das Woher meines Umgetriebenseins. Gott ist das Woher meines Geborgen- und meines Verpflichtetseins vom Mitmenschen her. Gott ist dort, wo ich in Pflicht genommen, wo ich engagiert bin; engagiert im unbedingten »Ich darf« und »Ich soll«. Der Mensch als Mensch, der Mensch in seiner Mitmenschlichkeit, impliziert Gott“. Für Braun ist die Anthropologie die Konstante in den neutestamentlichen Texten, die Christologie hingegen lediglich eine Variable. Damit fordert er den Christen auf, wesentlich zu werden und sich zu seinem Menschsein zu bekennen.
Es bedarf keiner weichgespülten Theologie, die der Selbstgerechtigkeit ihrer Verfasser dient, sondern klarer Ansagen und Aussagen. An dieser Aufgabe aber scheitern die Kirchen seit Jahrzehnten, ja, sogar seit Jahrhunderten. Insbesondere dann, wenn sie sich in Kneipen dem Zeitgeist anbiedern.
Der Frankfurter Förderverein PRO LESEN wird in seiner Dezember-Themenwoche „Die Sache mit Gott – Texte für die Gebildeten unter den Verächtern“ auf die oben geschilderte Problematik eingehen. Die öffentliche Lesung ist für den 19. Dezember im städtischen Bibliothekszentrum Sachsenhausen angesetzt.
Klaus Philipp Mertens