Einzelartikel aus „https://bruecke-unter-dem-main.de - Frankfurter Netzzeitschrift“

Das kritische Tagebuch

Wo Frauen zum Nichts werden

Über das Sprachverständnis des Frankfurter Literaturhauses

© MRG

Das Literaturhaus Frankfurt spricht die Adressaten seines Newsletters mit „Liebe Freund:innen und Besucher:innen“ an. Freunde und Freundinnen sowie Besucher und Besucherinnen wäre die korrekte und angemessene Form. Doch auch das genderneutrale Maskulinum, das Epikoinon, wäre erlaubt. Dann hieße es Freunde und Besucher. So schreibt es die deutsche Grammatik vor, so steht es im amtlichen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung. Letzteres wurde erst im Juni dieses Jahres aktualisiert. Dabei wurden Genderstern und Genderdoppelpunkt erneut verworfen. Von einer kommunalen Einrichtung zur Förderung der Literatur darf erwartet werden, dass sie sich der Hochsprache bedient.
 

Möglicherweise halten Mitarbeiter des Hauses es jedoch für modern und schick, Frauen (und möglicherweise auch Queere) zum Anhängsel zu degradieren und ihnen ein „:in“ („*in“) zuzuweisen. Dass auf diese Weise die Grammatik verkümmert (Freund als Plural von Freund und ohne Deklination, ebenso Leser und viele, viele andere Wörter) und diese Methode zu verkrüppelten Wortverbindungen führt, scheint dem ungeschulten Sprachempfinden gleichgültig zu sein. Ebenso geht dabei die beispielhafte Genauigkeit der deutschen Sprache verloren. Wer Konstruktionen wie Freund:innen untersucht, stellt durch logisches Schließen fest, dass eine „:in“ („*in“) auf die Existenz des vorangegangenen Wortes angewiesen ist. Denn für sich stehend ist sie ein Nichts. Geschlechtergerechte Sprache sieht anders aus.
 

Bei der Lektüre des letzten Literaturhaus-Newsletters stolperten literarisch interessierte Leserinnen und Leser zudem über eine inhaltliche Inkonsequenz. So wird auf eine Veranstaltung mit dem Schriftsteller Clemens Meyer am 23. September hingewiesen. In dessen neuem Buch „Die Projektoren“ wendet sich der Autor wortgewaltig gegen das sogenannte Gendern. Das erweckt den Anschein, dass die Presse- und PR-Referenten über keine oder lediglich eine unzureichende Beziehung zu Literatur und Literaten verfügen. Von den meisten Autoren, deren Neuerscheinungen in diesem Herbst vorgestellt werden, ist bekannt, dass sie sich ohne Abstriche an die deutsche Grammatik und Rechtschreibung halten, deren Regeln sich stets in genuiner Weise weiterentwickelt haben und nie einer ideologischen Bevormundung bedurften.
 

Der letzte Großangriff auf die deutsche Sprache fand in der NS-Diktatur statt. Zum einen durch die Militarisierung der Alltagssprache (echt – einmalig, Einsatz, Frauenarbeit, Kulturschaffende, leistungsmäßig, querschießen), zum anderen durch sprachliche Unterordnung der Frauen (Mütter im Vaterland). Die Journalisten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind haben das in ihrer zwischen 1945 und 1946 erschienenen Artikelserie „Aus dem Wörterbuch des Unmenschen“ ausführlich dargestellt. Anlässlich des Erscheinens der ersten Buchausgabe 1957 gestanden die Verfasser ein: „Das Wörterbuch des Unmenschen ist das Wörterbuch der geltenden deutschen Sprache geblieben, der Schrift- wie der Umgangssprache, namentlich wie sie im Munde der Organisatoren, der Werber und Verkäufer, der Funktionäre von Verbänden und Kollektiven aller Art ertönt. Sie alle haben, so scheint es, ein Stück vom totalitären Sprachgebrauch geerbt, an sich gerissen, aufgelesen oder sonst sich zugeeignet.“
Der Philologe Victor Klemperer nahm in seinem Notizbuch „LTI – Lingua Tertii Imperii“ ebenfalls eine detaillierte Analyse der Sprache des Dritten Reichs vor.
 

Das Frankfurter Literaturhaus ist in der ehemaligen Alten Bibliothek am Mainufer untergebracht, die im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde. Lediglich der Säulenportikus blieb weitgehend erhalten. Mit dem Wiederaufbau des restlichen Gebäudes wurde 2003 begonnen; 2005 bezog das Literaturhaus, das vordem im Westend untergebracht war, sein neues Refugium. Die goldfarbene Inschrift im Giebel geht auf den Philosophen Arthur Schopenhauer zurück: Litteris Recuperata Libertate Civitas. Der lateinische Text bedeutet: Der Wissenschaft gewidmet nach Wiedererlangung der Freiheit von den Bürgern.
Die Freiheit der Wissenschaft und speziell die der Literatur scheint derzeit vor allem durch Ahnungslosigkeit, Einfältigkeit, Gleichgültigkeit und Desinteresse bedroht.
 

Klaus Philipp Mertens