Einzelartikel aus „https://bruecke-unter-dem-main.de - Frankfurter Netzzeitschrift“

Das kritische Tagebuch

Babylonische Verhältnisse

Der Frankfurter Theaterneubau: Die Kosten steigen, die künstlerische Konzeption („Kulturmeile“) wird nicht plausibler. Der Kern jeder Bühne, nämlich die künstlerischen Ambitionen, werden äußeren unterworfen. Wobei die bislang vorgelegten architektonischen Lösungen lediglich den fragwürdigen Charme von Gigantomanie aufweisen. Folglich setzt die Immobilienbranche auf gute Geschäfte in einer Eventmeile, die an Kultur nur vorbeischlittert. Möglicherweise stürzt das babylonische Kartenhaus noch während der Planungs- und Bauphase ein.

 

Der Neubau von Schauspielhaus und Oper wirft wieder einmal unliebsame Schatten. Und diese lösen neue Irritationen aus. Zunächst wegen der Kosten. Allein für den Abriss der Fraspa- und Helaba-Zentrale muss die Stadt Frankfurt 3,7 Millionen Euro zahlen. Für das Grundstück, auf dem das zukünftige Schauspielhaus erstehen soll, sind 210 Millionen fällig. Dabei geht das Gelände nicht in städtisches Eigentum über, vielmehr wurde ein Erbbauvertrag vereinbart. Die Stadt erkauft sich lediglich die Nutzung für 199 Jahre. Der Bau eines Interimsstandorts für das Schauspiel an der Gutleutstraße (also weit, weit draußen) schlägt nach derzeitiger Berechnung mit 37,4 Millionen zu Buche. Kurzfristig sind insgesamt 251,1 Millionen Euro fällig. Allein für dieses Geld könnten die maroden bis baufälligen Frankfurter Schulgebäude saniert werden, was eine nachhaltige Investition in Bildung und Kultur wäre. 

 

Dabei ist der Löwenanteil der veranschlagten Gesamtkosten von ca. 1,3 Milliarden Euro noch längst nicht spezifiziert und es ist zweifelhaft, ob die Stadt diese Summe überhaupt aus eigenen Mitteln aufbringen kann. Ebenso ist ungeklärt, ob das Land Hessen etwas beisteuert und falls ja, mit welchem Betrag zu rechnen ist. 
Vor fünf Jahren belief sich die Schätzung der Baukosten noch auf 900 Millionen Euro. Mittlerweile liegt sie bereits um 45 Prozent höher. Es hat den Anschein, dass sämtliche bisherigen Prognosen Luftnummern waren und sich daran auch nichts ändern wird. Vermutlich ist nicht auszuschließen, dass aus den bisherigen Kalkulationen, die nach der Methode „Milchmädchenrechnung“ zustande kamen, zwei 2 Milliarden Euro werden könnten. Vor diesem Hintergrund misstraue ich sämtlichen Planungen und Zahlenwerken, die von der Kulturdezernentin und ihrer Stabsstelle vorgelegt werden. 

 

Als vor wenigen Jahren die Diskussion über Abriss oder Neubau der Theaterdoppelanlage aufflammte, haben mich jene Gutachter überzeugt, die für eine Sanierung plädierten. Das Gebäude sei keine Ruine, aber die mangelhafte Wartung während der vorangegangenen 40 Jahre hätte Spuren hinterlassen. Vor allem bei Strom- und Wasserleitungen, bei der Feuchtigkeits- und Wärmeisolierung und beim Brandschutz. Die Stadtverordneten zeigten sich jahraus, jahrein knauserig bei der Genehmigung von Etats für elementare Reparaturen. Tatsächlich hat der Magistrat den tatsächlichen Zustand der Anlage nie transparent gemacht. Die veröffentlichte Baubestandsaufnahme wirkte dilettantisch; die Kostenermittlung bewegte sich nicht konsequent entlang den Vorgaben der „Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen VOB“. Für eine Sanierung, die das Nötigste umfasste, wurden 250 Millionen Euro veranschlagt, für eine totale Modernisierung 600 bis 700 Millionen. Auch das wären hohe Ausgaben gewesen, aber doch deutlich weniger, als der beschlossene Neubau kosten wird.

 

Da die Befürworter eines Neubaus sich nie zur Anzahl der Theaterbesucher geäußert haben, kam bereits früh der Verdacht auf, dass die Verantwortlichen etwas zu verbergen haben. 
Ich selbst habe zu Oliver Reeses Zeiten 50 bis 60 Aufführungen pro Jahr besucht, ohne Abonnent gewesen zu sein. Nach meiner Wahrnehmung waren Schauspiel und Kammerspiele konstant ausgebucht. Doch ich habe überwiegend immer dieselben Gesichter gesehen; man grüßte sich sogar, weil man sich vom Sehen kannte. Als ich daraufhin wegen des Kartenabverkaufs recherchierte, erfuhr ich nur die Gesamtanzahl von seinerzeit 360.000 ausgegebenen Karten (Schauspiel und Oper). Die Angaben deckten sich mit denen im statistischen Jahrbuch der Stadt, wobei es offensichtlich auch Jahre gab, in denen die Verkäufe um zehn Prozent darunter lagen.

Die von Oper und Schauspiel in den Berichtszeiträumen 2017 bis 2020 jeweils maximal ausgegebenen 360.000 Karten bedeuteten jedoch nicht, dass es sich um einzelne Personen handelte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass zwei Drittel auf Abonnenten und Schauspiel-Card-/Opern-Card-Inhaber entfielen, die mindestens fünfzehnmal pro Spielzeit ins Theater gingen. Und beim verbleibenden Drittel ist ein Erfahrungswert von durchschnittlich 5 Besuchen pro Spielzeit anzusetzen. Diese Verteilung entspricht den Erhebungen, die in vergleichbaren großen Häusern angestellt wurden und in Fachpublikationen ersichtlich sind. Ich habe sowohl die überschlägigen als auch die belegten Daten mit persönlichen Stichproben in meinem theateraffinen Bekannten- und Freundeskreis verglichen und bin auf eine hohe Übereinstimmung gestoßen. Außerdem habe ich Teilnehmer des VHS-Theaterseminars befragt, die mir diese Eindrücke bestätigten. Schließlich errechnete ich maximal 40.000 Einzelpersonen pro Spielzeit, die mehrfach bis häufig ins Theater oder in die Oper gingen. Das sind nur etwa 5 Prozent der Frankfurter Bevölkerung.

 

Seither bringe ich diese ziemlich realistische Annahme in eine Relation zu den Kosten für einen Neubau. Weder die mittlerweile verlautbarten 1,3 Milliarden noch die vorstellbaren 2 Milliarden Euro sind im Verhältnis zum Teil der Bevölkerung, der davon profitieren würde, akzeptabel. 

 

Das für Immobilien zuständige Helaba-Vorstandsmitglied deutet in einem Interview das Ziel der Geldbranche an: „Projekte von generationsübergreifender Relevanz wie die Kulturmeile sind für uns als Landesbank ein besonderes Anliegen.“ 

Meine Schlussfolgerung: Es geht nicht um Kultur, sondern um den Profit aus Immobiliengeschäften, die letztlich aus Steuergeldern finanziert werden. Die Kultur dient lediglich als Aushängeschild, um die tatsächlichen Interessen zu verschleiern.

 

 

Klaus Philipp Mertens